Die Tochter der Tibeterin
–, als ob eine Kugel meinen Schädel durchschlug.«
Ich konnte sein ehrfürchtiges Staunen nachempfinden, weil sich das Staunen auch auf mich übertrug. Er hatte eine ausgeprägte Wahrnehmungskraft, wie sie wenige Menschen besaßen. Doch gleichzeitig war da etwas, was ihn einschüchterte, und das wusste er besser als ich. Ich… ich wusste nicht, warum Kunsang eine Segnung zuteil wurde, warum eine Yi-dam-gyi-Iha, eine Schutzgottheit, von ihr Besitz ergriffen hatte.
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»Wie ist das möglich, Atan?«
»Ich weiß es nicht. Solche Menschen erschaffen die Geister jedesmal neu, eine Übung von unerhörter Konzentration. Die Vision wird dann so stark, dass sie gleichsam ›objektiv‹ gegenwärtig erscheint, wie eine Person, der wir in dem, was für uns Wirklichkeit ist, begegnen.«
»Was willst du damit sagen, Atan?«
Er runzelte die Stirn und sah mich an, als dachte er: Wird sie begreifen?
»Für mich war es wie eine Explosion, keine Fieberphantasie, sondern ein Augenblick, der in mir ist, der einmal war und ewig wiederkehrt.«
Ich fühlte mich hilflos, aber ich glaubte zu verstehen, was er meinte.
»Eine Projektion deines Denkens?«
»Ich würde sie als ›scheinbare Realität‹ bezeichnen, wie ein Drogentrip. Das Beunruhigende dabei ist, dass Kunsang die Vision –
wenn es eine ist – empfängt und weitergibt. Sie spielt auf jedem von uns wie auf einem Instrument. Ihre geistige Kraft ist für alle, die ihr begegnen, deutlich sichtbar. Das macht sie so gefährlich. Wären wir Menschen ohne Erinnerung, hätte sie keine Macht über uns.«
»Du meine Güte, Atan! Was plant sie denn? Bombenattentate?«
»Einstweilen singt sie bloß alte Lieder. Musik ist kein Ersatz für Freiheit, aber wir reagieren da sehr empfindlich. Es gibt kein mechanisches Zuhören. Menschen mit all ihren Leidenschaften können viele Dinge aus der Musik heraushören, die Welt neu entwerfen oder selbst ganz anders werden. Es ist so ziemlich die einfachste Sache von der Welt, und sie funktioniert seit zehntausend Jahren…«
»Wenn sie beginnt, sich in die Politik einzumischen…«
»Ich fürchte«, sagte er, »dass sie bereits damit begonnen hat.«
Das Unvermeidliche ging mir auf: Kunsang hatte gefunden, was sie suchte. Was jeder Mensch sucht, ist nicht, was er sieht oder erfährt, sondern das, was er ohne Worte begreift, eine geheime Formel der Hoffnung. Und für Kunsang waren es keine Ideen, im Lichte einer ungeduldigen Erwartung betrachtet. Für Kunsang waren es Geister, damit mussten wir uns abfinden. Geister sind schön und wunderbar und vollkommen; uns allen mochte es wohltun, ihnen ins Auge zu sehen. Wir sind voller Frieden und Glück, weil da etwas ist, das uns liebt und auf uns wartet; etwas, das für uns realer wird als 231
die reale Welt. Ja, gegen die Geister waren wir machtlos.
In der Nacht entfernte sich der Wind, zog seine Kreise in unendlichen Höhen. Ich musste eingeschlafen sein; bei Anbruch des Tages weckten mich seltsame Laute, eine Art unausgesetztes Jaulen.
Ich lag nackt in Atans Armen, tauchte verwirrt aus der Tiefe des Schlafs auf. Das Jaulen hörte sich geradezu wie elektronische Musik an, die aus allen Windrichtungen über dem Hochtal kreiste.
»Füchse«, hörte ich Atan sagen. »Sie begrüßen die Sonne.«
Ich wandte ihm mein Gesicht zu. Die kleinen Butterlampen waren niedergebrannt. Das Weiß seiner Augen schimmerte in der Dunkelheit der Jurte. Ich fragte:
»Schläfst du denn nicht?«
»Schlafen? Ich weiß nicht mehr, was das eigentlich bedeuten soll.
Ja, kann wohl sein, dass ich ein wenig geschlafen habe.«
Die Temperatur war stark gesunken. Ich schmiegte mich enger an ihn. Er zog die Felldecke, die mit einem grünen Tuch gesäumt war, enger über meine Schultern.
»Du frierst ja!«
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Mein Leben ist zu bequem. Und ich glaube nicht, dass ich noch einmal ganz von vorn anfangen könnte.«
»Nein?«
Er ließ mich los, aber nur, um sich auf mich zu wälzen. Ich streckte mich, umfasste seine Schultern. Er legte sein Gesicht auf meine Brüste.
»Schließlich«, sagte ich, »gehe ich ja wieder weg von dir.«
»Ich weiß.«
Ich würde ihn verlassen können, wenn das mein Wunsch war, ohne dass er etwas von mir verlangte oder forderte. Wir sprachen ganz sachlich, aber das Begehren kam wieder, der Genuss auch, nach der Lust auf neue Lust zu warten. Seine Zunge wanderte über meinen Hals, kreiste über meinen Brüsten. Er biss in meine Brustwarzen, zuerst sanft, dann
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