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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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entrücktes Gesicht, die Falten um den Mund, bevor er sich auf meine Brust sinken ließ, das Gesicht an meinen Hals gedrückt. Es überlief mich heiß. Es war wirklich erstaunlich, ich empfand einen nahezu brennenden Genuss an mir selbst und dass ich wohl die Macht hatte, einen Mann zu betören. Er hob das Gesicht und blickte mich an; ich sah seine Augen im safrangelben Licht der kleinen Butterlampen.
    Blitzende, klare Augen, unwahrscheinlich jugendlich, von einem fast violetten Schwarz. Und doch trieb auf ihrer dunklen Pupille ein leichter Flor von Auflösung und Trauer, wie Öl auf dem Wasser 223
    schwimmt. Ich streichelte ihn sanft; seine Lippen deuteten ein Lächeln an. Mir war, als hörte ich Wellen an eine verborgene Küste branden; erst allmählich wurde ich gewahr, dass es der Wind war, der über die Bergflanke strich. Das Rauschen hatte etwas seltsam Endloses an sich; als ob die Wellen des Schicksals die Jurte umbrandeten.
    224

23. Kapitel

    D raußen fegte der Wind heulend, riss und zerrte an den Seilen, die pfeifend surrten. Der Wind schüttelte die Zweige, die Bäume knarrten. In hundertfachem Echo warfen die Felswände sein klagendes Lied zurück. Die Flämmchen auf dem Tragaltar zuckten im Durchzug, selbst der Boden schien unter mir zu schwanken. Mir war der Wind unheimlich, aber Atan schien ihn nicht einmal zu hören. Er war vollkommen gelassen in seiner vertrauten Welt, in der ich nur Gast war. Erst als ich mich bewegte, rührte auch er sich und rollte von mir weg, zugleich die Felldecke über mich ziehend. Als er sich aufsetzte, schimmerte das Licht der Lampen auf seiner dunklen, schweißglänzenden Haut. Die Größe, Wärme und Stärke seines Körpers erfüllte die Jurte, als er, mir zulächelnd, aufstand und Chang aus einem Krug in zwei Schalen aus Rosenholz goss. Dann trat er an mein Lager, reichte mir eine Schale, die wunderbar glatt und mit kleinen Ornamenten aus Silber in meiner Hand lag. Der Chang schmeckte frisch und belebend. Ich trank ihn mit Genuss. Atan sah unverwandt in mein Gesicht.
    »Wie lange ist es her?«, fragte er nach einer Weile. »Zehn Jahre?
    Oder mehr?«
    »Nicht so lange. Was hast du in dieser Zeit gemacht, Atan?«
    »Ich habe auf dich gewartet. Was hätte ich denn anderes machen können? Und du, warst du glücklich, in dieser Zeit?«
    Ich verzog das Gesicht.
    »Manchmal werde ich es wohl gewesen sein. Das kann jeder Mensch, wenn er sein Leben danach einrichtet.«
    »Ich habe mein Leben schon hinter mir. Im Grunde machte es mir wenig aus, als ›Freiarbeiter‹ Steine zu klopfen.«
    Ein Frösteln überlief mich.
    »Warst du in Haft, Atan?«
    »Sagen wir mal, in einem Umerziehungslager. Ich war am Bau der Fernstraße Sichuan-Tibet beteiligt, die – wie konnte es anders sein – militärischen Zwecken dient. China und Tibet verfügen über zweitausend Gefangenenlager; man fragt sich, wozu, denn offiziell gibt es keine politischen Häftlinge mehr.«
    »Ach nein?«
    »Nein. Seit kurzem sollen Urteile nach dem ermessen der Polizei‹ erlassen werden. Was bedeutet, dass jeder Bevollmächtigte 225
    mit Bürgerrechtlern, demokratischen Dissidenten, politischen Aktivisten und anderen unbequemen Leuten nach Lust und Laune verfahren kann, unter der einzigen Bedingung, ihnen nicht vorzeitig den Garaus zu machen. Tja. Sie können sich schon erlauben, ein wenig großmütig zu sein. Sie sind sich ja gewiss, dass sie uns zuverlässig ausrotten und am Ende das Land auch noch bekommen.«
    »Spielst du nicht mit dem Feuer?«
    »Nein, ich spiele mit dem Herzen. Ein Spiel um des Spiels willen, falls dir das besser gefällt. Wenn Tibeter Steine auf eine Polizeistation werfen, werden sie mit Panzern überfahren. Die Soldaten lassen sie liegen, wahrhaftig kein schöner Anblick. Sie nehmen es auch nicht sehr genau damit, wer noch lebt und wer nicht mehr lebt. Das ist etwas, woran ich mich immer erinnere, was ich niemals vergessen werde…«
    Die Art von Trauer, die er seit Jahrzehnten durchlebte, die Angst, entsetzlich, erdrückend, dass er der Verzweiflung nicht Trotz bieten konnte – ein gewisser Schutz lag in dieser Art zu reden. Ich sagte zu Atan:
    »Könntest du bitte Einzelheiten weglassen?«
    Wieder begegneten unsere Blicke einander; seine Augen waren umschattet: ein Schatten, der von innen kam. Es war der Blick eines Kriegers, bewaffnet für eine verlorene Schlacht. Ich dachte, dass er bereits in der Ohnmacht der Niederlage lebte; er wusste um den Verlust der Hoffnung und die Leere, die

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