Die Tochter der Tibeterin
entdeckt, China zu misstrauen.«
»Ja. Aber daneben haben sie Angst, dass sie etwas verpassen.
Also rollen sie für Kriegsverbrecher den roten Teppich aus, starren auf die Volksrepublik wie das Kaninchen auf die Schlange und exportieren lieber Airbusse als Gerechtigkeit.«
»Wenn sie lange genug hinstarren, sehen sie womöglich die Schlinge.«
»Touristen kommen mit gemischten Gefühlen aus Tibet zurück«, sagte ich. »Eigentlich gefällt es ihnen gut. Sie suchen Exotik und werden nicht enttäuscht. Sie sehen prachtvoll restaurierte Klöster, treffen fröhliche Mönche, erfahrene Fremdenführer und zuvorkommende Beamte.«
Er nickte.
»Klar doch. In Beijin haben sie sogar die Rasenflächen grün gestrichen. Aber Exiltibeter kennen ihre Geschichte; sie bemerken ungewohnte Klänge und Augenwischereien. Und machen oft Stunk und handeln sich Ärger ein. Sie haben noch Potential.«
Er hatte mir das Stichwort gegeben. Ich zögerte, doch nur kurz.
Irgendwann musste ich ja davon reden.
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»Atan, hör zu… Ich bin nicht nur deinetwegen hier… «
»Kunsang«, sagte er. Er wusste also alles. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Und gleichzeitig spürte ich, wie mein Puls zu rasen begann.
»Ja, Kunsang. Ist sie hier?«
»Noch nicht. Erst in drei Tagen. Sie wird am Erntefest in Gonkar-Sha auftreten. Es hat sich herumgesprochen. Die Leute werden in Scharen kommen.«
»Atan, die Chinesen…«
»Ich weiß.«
Es spannte mich aufs äußerste an, ruhig zu bleiben. Ich wusste, ich war nicht im Gleichgewicht.
»Hast du sie gesehen? Mit ihr gesprochen?«
»Ja«, sagte er knapp.
»Ich habe Angst um sie.«
»Die kannst du auch haben.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich versteh’ nichts von der Art, wie sie die Dinge sieht. Ich kann mich nicht in ihre Haut versetzen. Du etwa?«
Er sah mich mit dunklen Augen an, gleichsam müde von zu abgründigem Wissen. Nach einer Weile sagte er:
»Ich bin nicht vorsätzlich blind. Es gibt schon gewisse Dinge, die ich verstehe.«
»Ist sie verrückt, Atan?«
Er verzog unfroh die Lippen.
»Das wäre zu einfach. Nein, verrückt ist sie nicht. Ihr Fall ist komplizierter. Ich habe mir mit der Zeit meinen Reim darauf gemacht.«
»Und zwar?«
»Sie ist aus gutem Grund hier. Sie fühlt sich – wie sie sagt –
gelenkt.«
Ich bemerkte das argwöhnische Widerstreben in mir und dachte, es stimmt schon, die Sache hat mit Vernunft nichts zu tun. Sich dem Unbekannten hinzugeben mochte eine Freude sein. Es gibt genug Jugendliche, die jedem Zweck ausweichen, ihr Leben nur noch als Routine empfinden. Klar muss ein solches Dasein jeden Lebensnerv in ihnen töten. War nicht irgendein Wagnis unendlich verlockender?
In dieser Hinsicht hatte Kunsang einen eisernen Willen entwickelt.
Mir kam es so vor, als liefe sie dabei in die falsche Richtung. Aber vielleicht lag das nur daran, dass ich ihr nicht folgen konnte.
Draußen heulte der Wind. Wir nahmen schweigend einen 229
Schluck.
»Sie hat sich in den Kopf gesetzt, die Geister hätten ihr befohlen, Tibet von den Chinesen zu befreien.«
Ich setzte mich ruckartig auf.
»Scheiße! Das darf doch wohl nicht ihr Ernst sein!«
Er drückte beschwichtigend meine Hand.
»Doch. Es ist ein harter Boden hier. Aber ich glaube, sie hat starke Wurzeln.«
»So was muss man im Keim ersticken!«
Er antwortete sachlich:
»Wir müssen uns vor Augen halten, dass es vielleicht nicht geht.
Es liegt an ihrem Karma, dass sie mit sich selbst kein Erbarmen hat.
Sie ist kein durchschnittlicher Mensch; das war sie nicht einmal als Kind.«
Sie ist nie ein Kind gewesen, dachte ich schaudernd und voller Schmerz.
»Wie deine Mutter, damals? Sag, Atan, ist es das?«
Seine Hand auf meiner wurde plötzlich kalt.
»Kunsang sagt, dass sie mit ihr spricht.«
»Glaubst du das, Atan?«, fragte ich scharf.
Er atmete tief durch.
»Es stimmt wohl, dass Kunsang ein Rätsel ist. Oder vielleicht auch nicht… nein. Sie weiß Bescheid, siehst du. Sie hat mir ihre Vision gezeigt.«
Ich fühlte zum ersten Mal, dass ich Angst hatte, richtige Angst.
»Wie im Tashi-Pakhiel-Camp? Damals, vor acht Jahren?«
Die Frage war mir entschlüpft; jetzt fühlte ich mich zerknirscht.
Tatsächlich wollte ich mich nicht erinnern. Ich hatte das Gefühl, dass ich dadurch eine Wunde aufstach.
»Da war es ein Schatten«, sagte Atan ruhig, »kaum eine Armlänge von mir entfernt. Aber Kunsang ist jetzt kein Kind mehr.
Ihre Kraft hat zugenommen. Diesmal war mir – ich kann es nicht anders sagen
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