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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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zitternd lebendig. Die Trommelspieler waren die ersten, die kamen, ließen die Instrumente unter ihren Fingern tanzen, warfen sie in die Luft und fingen sie wieder auf. Und dann, wie von der Musik herbeigelockt, traten die Masken aus der Dunkelheit, tanzten in einer Reihe und sangen dabei. Ihre Stimmen waren schrill, sie schüttelten ihre Gliedmaßen und schwangen Wacholderbüschel an großen Stäben. Die Gottheiten wurden greifbar, und sie waren aus einer anderen Welt gekommen. Sie tanzten – je nach der Figur, die sie darstellten – manchmal langsam und feierlich, manchmal lebhaft und schnell. Viele Menschen haben vor den Schauspielern Angst, deswegen stellt das Auftreten der heiligen Clowns einen wesentlichen Teil des Rituals dar. Sie lassen Puppen an langen Fäden tanzen, schaffen mit allerlei Schabernack eine entspannte Stimmung. Ich stellte fest, dass Masken und Kostüme im Laufe der 234
    Jahre nur wenig Veränderungen erfahren hatten; ich sah dies mit Freude. Ihre Gesten und Tänze, die Verwendung verschiedener Gegenstände enthielten uralte Zeichen und Hinweise. Doch einiges hatte sich verändert; ich bemerkte, dass Frauen Rollen übernommen hatten, die ursprünglich von Männern gespielt wurden. Die Masken, die sie trugen, waren entweder alt oder mit großer Vollendung nachgebildet. Es waren Masken, die unter dem Namen Chosskyong -
    Schützer der Lehre – im alten Tibet große Verehrung genossen. Eine Maske fiel mir besonders auf, weil sie, wie mir schien, von einer ganz jungen Frau getragen wurde. Sie war als ›Atsara‹, als indische Heilige, verkleidet, was die Komik nicht ausschließt. Ihre Arme und Hände waren mit Nussbranntwein dunkelbraun gefärbt und mit weißen Streifen bemalt, das gekräuselte Haar mochte eine Perücke aus Menschenhaar sein. Ihre Maske war schwarz, mit roten, wulstigen Lippen und vorspringenden Augen. Die Maske sollte clownisch wirken, und doch hatte ich das Gefühl, ein energisches, hochmütiges, stolzes Gesicht zu sehen, so wunderschön war das Holz geschnitzt. In den Gesten und Gesängen der Darstellerin vermischten sich Elemente unserer alten Bon-Religion, volkstümliche Balladen und derbe Reime der Hirten und Bauern. Im Grunde ging es darum, die drei von den Gottheiten bewohnten Ebenen der Welt zu vermischen. Wir sagen, dass diese vorgetragenen Epen und Lieder ›die Herrschaft schützen‹ – sie sind Ausdruck der Klugheit der Ahnen und stützen somit die Ordnung der Welt und der Gesellschaft. In solchen Darbietungen verschmelzen Volksbräuche, Magie und esoterische Riten; und kein Mensch würde auf den Gedanken kommen, das Profane vom Religiösen zu trennen.
    So trug die Sängerin das alte Lied vor, in dem erzählt wird, wie der Gott des Heiligen Berges, als Hirte verkleidet, der Weißen Löwin mit der Türkismähne begegnet und sich in heftiger Liebe zu ihr verzehrt. Die Weiße Löwin stellt den Gletscher dar. Ihre Milch – das Gletscherwasser – nährt ihre Kinder, die Yaks, die den Menschen Glück und Wohlstand bringen. Aus dem Mund der Darstellerin kamen ganz erstaunliche Laute, rau und zärtlich, heiser und weich, hell und dunkel zugleich. Kraft und Spannung fluteten von ihr aus –
    und bei jeder neuen Strophe raunte die Menge ehrfürchtig. Auch ich fühlte mich merkwürdig berührt. Der Klang, die Tonfülle, die geballte Energie und Leidenschaft ihrer Stimme erschütterten mich wie selten etwas in meinem Leben. Es war, als ob die Gestalt meiner Mutter aus fernen Jahren heranwehte, mir zuflüsterte: ›Hier bin ich!
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    Komm, Atan, komm zu mir!‹ Fast ohne es zu merken, trat ich dichter an die Frau heran, und so kam es, dass wir uns plötzlich in der Menge gegenüberstanden. Soll ich sagen, dass ich mir irgendwie albern vorkam? Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl plötzlicher Stille.
    Das Gesicht der Frau war völlig hinter der Maske verborgen. Sie hatte ihr Lied beendet und stand vor mir, eine kleine Gestalt, dunkel im Gegenlicht. In den Löchern der Maske waren ihre Augen auf mich gerichtet. Mit einer leichten Geste, die gerade nur die geschwärzten Fingerspitzen Vorschauen ließ, winkte sie mir. Ich näherte mich ihr auf zwei Schritte und merkte zu spät, dass ich – ein Mann in der zweiten Lebenshälfte – ihr wie ein läppischer Schuljunge gehorcht hatte. Sollte man darüber lächeln? Ich konnte es nicht; ich war vollkommen gefangen. Die Maske verbarg völlig ihr Gesicht, nur die Augen waren sichtbar. Es waren seltsame Augen, lang und dunkel, mit

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