Die Tochter der Tibeterin
darauf folgte. Und ich – ich war nur eine Ärztin, eine gute möglicherweise, aber eben doch nur eine Ärztin.
Er nickte abwesend.
»Ich probiere es mal. Reden wir von denen, die in Haft kommen.
Die ziehen kaum ein besseres Los. Man presst mit alten und modernen Methoden Geständnisse aus ihnen heraus. Und jahrelang kommt nicht die geringste Nachricht von ihnen, nie. Die Angehörigen bekommen nicht einmal Bescheid, dass es sich nicht mehr lohnt zu warten, dass sie tot sind. Ausländischen Berichterstattern werden Mustergefängnisse vorgeführt; in den Sonderarrestzellen aber schleicht der Tod umher, und er hat die verschiedensten Formen. Einige der Leute, mit denen ich Steine klopfte, sind heute in Sicherheit in Nepal. 1996 lancierte Beijin die Aktion ›Hart zuschlagen‹ und meinte es wörtlich. Die Soldaten prügelten auf Demonstranten, als hätten sie von Mao persönlich den Befehl dazu bekommen. Die Ideologie half ihnen, ein gutes 226
Gewissen dabei zu haben. Andere wollten nur ihren Spaß: Tibeter seien ja ständig besoffen und stockdumm. Kein Wunder: Schnaps ist spottbillig zu haben. Und ich sah nicht einfach nur zu, wenn etwas geschah. Einige Videos konnte ich über die Grenze schmuggeln. Die Medienresonanz blieb diskret. Mal wieder Pech gehabt. Ich weiß, wie es sich anhört, wenn unten im Gefängniskeller Arme und Beine abgesägt werden, aber tibetische Schreie tragen nicht über den Himalaya.«
»Atan, denkst du nie an deine Sicherheit?« Vielleicht hatte ich ihn, in all diesen Jahren, vor der Verzweiflung bewahrt? Welche Frau hätte einer solchen Rolle widerstehen können? Ich konnte ihr nicht widerstehen. Doch er sagte:
»Nein. Ich denke an meinen Stolz. Hält der Stolz an, wenn die Demütigung mein ganzes Volk gefangen hält? Wenn Demonstranten den Tod in jedem Gewehrlauf sehen? Es ist immer eine Gratwanderung zwischen Stolz und Bedauern. Mitleid wäre hier wohl angebracht, aber wem nützt Mitleid schon? Durch die Umsiedlungsprogramme sind die Nomaden in die Städte verpflanzt worden; Tausende sind verschwunden, einfach so. Sie waren da –
und wo sind sie jetzt? Die Erde ist überall mit Brandwunden und Narben bedeckt. Der Abtransport von Getreide, Baumstämmen, Erdöl, Uran, Gold und anderen Bodenschätzen nach China hat sie krank gemacht. Die Temperatur fällt und fällt, der Winterteufel zeigt sein hässliches Gesicht. Moose und Harze verfaulen, die Tiere verhungern. Der Sturm betäubt alle Sinne, die Fingerspitzen bluten, und unsere Füße frieren am Boden fest. Die Erde hat keine Kraft mehr, sie liegt im Sterben. Die Han haben ihr den Krieg erklärt.
Tausend Ausbeuter. Tausend Schurken. Tausend nie gesühnte Verbrechen. Weißt du, wie die Han unser Land nennen? Xizang –
Schatzkammer im Westen.«
»Klingt eindeutig. Und jetzt?«
»Es hört nicht auf. Wer noch keine Tränen vergossen hat, weiß, dass der Augenblick zum Weinen gekommen ist. Nach Jahren der Unfreiheit haben wir die Jahre der scheinbaren Freiheit. Aber es sind immer nur die Chinesen, die etwas zu sagen haben. Sie sorgen methodisch dafür, dass wir weniger werden. Frauen, die bereits zwei Kinder haben, wird das dritte Ungeborene aus dem Leib geschnitten.
Oder man sagt den Frauen, sie hätten ein Monster zur Welt gebracht, das nach zwanzig Minuten ganz blau geworden und gestorben sei.
Das sei zwar traurig, aber unvermeidlich. Im ersten Schuljahr wird 227
dann den Kindern die Geschichte vom bösen Menschenfresser erzählt – gemeint ist Seine Heiligkeit. Die Kleinen bekommen ein Bild von ihm zu sehen, mit der dringenden Aufforderung, es unverzüglich den Lehrern mitzuteilen, falls ihre Eltern ein solches Bild zu Hause haben. Kannst du dir das vorstellen? Wir leben in einem Zerrspiegel, zwischen Lügen, Opportunismus und Angst.
Unser Glaube ist heute wie eine Quelle, deren Wasser heilt. Aber der Weg dahin wird uns nur in den Klöstern beigebracht.«
Ich seufzte.
»Bei uns ist der Buddhismus in Mode. Meditation hat Hochkonjunktur.«
»Ach, hilft das?«
»Um aus Depressionen herauszukommen, bisweilen.«
»Vielleicht sollte ich mehr meditieren.«
Wir lachten beide, auf jene bittere Art, in der man über ein Unglück lacht.
»Was ich damit sagen will, Atan: Im Westen zeigen nicht nur Politiker, sondern auch Geschäftsleute allmählich Betroffenheit.«
Er verzog freudlos das Gesicht.
»Das wäre – nach einem halben Jahrhundert – immerhin vorstellbar. Offensichtlich haben die Regierungen ein paar Gründe
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