Die Tochter der Tibeterin
fester, bis es schmerzte. Ich rieb mich an ihm, stöhnend. Doch ein sonderbarer Eigensinn hielt mein Verlangen in Fesseln. Mir war plötzlich, als ob meine Empfindungen sich in ein großes Spinnennetz verstrickt hätten, eingefangen wären von einem Schicksal, das unter der Oberfläche meines bewussten Willens lag. Dagegen wehrte ich mich. Wenn ich diesen Vorbehalt auch mit Verachtung von mir stieß, peinigte das Geheimnis doch mein Herz und gab mir keinen Frieden. In einer solchen Situation brauchte es Mut. Aber so, wie die Dinge lagen, brachte ich diesen 232
Mut auf und war selbst überrascht, als ich mich – während die Füchse am Waldesrand jaulten – die Frage aussprechen hörte, überraschter noch, als vielleicht er es war.
»Hast du Kunsang oft getroffen, Atan?«
Seine Arme, die mich umfassten, lockerten sich ein wenig. Er schien verlegen und gleichzeitig belustigt.
»Warum fragst du das?«
»Vielleicht meine ich in Wirklichkeit etwas anderes.«
»Ob ich mit ihr geschlafen habe?«
»Hast du das?«
Er schmiegte den Kopf an meine Schulter, lange, ohne ein Wort zu sagen. Ich wartete darauf, dass er weitersprach, er wusste es, und ich fand es überflüssig, weitere Fragen zu stellen. Nach einer Weile hob er den Kopf und sagte mit sanfter Ironie:
»Wenn du glaubst, dass mir diese Sache erlaubt hat, sie ein wenig… zu begreifen, so weiß ich jetzt genauso wenig wie früher.
Sie hat von ihrer Mutter gesprochen… «
Ich fuhr zusammen.
»Von Chodonla?«
»Ja, sie sagte, dass Chodonla nie von mir sprach, aber immer auf mich wartete. Kinder fühlen solche Dinge. Wusste sie zuviel? Ich nehme es an. Sie konnte sich noch zu gut darauf besinnen, wie sie als Kind war. Für mich war sie eben nur das gewesen – ein Kind.
Vielleicht musste ich, um sie zu verstehen, auf die Bilder jener frühen Tage zurückkommen. Sun Li brachte ihr Buntstifte mit.
Vielleicht, wenn ich mich an ihre Bilder erinnerte, würde ich die Verbindung sehen zwischen dem kleinen Mädchen, das so klar wie Gebirgswasser war, und der jungen Frau, deren Seele sich im Dunklen verbirgt. Aus der einen wurde ja die andere.«
»Wann hast du sie wiedergesehen?«
»Am Sakadawa-Fest in Batang. Meine Leute verkaufen dort Butter, Käse, Salz und Borax und erstehen für den Erlös Getreide, das in unseren Hochtälern schlecht gedeiht. Aber sie müssen den Behörden Steuern zahlen. Nur wenige Nomaden können lesen und schreiben, sie sind froh, wenn ich ihnen bei ihren Problemen helfe.
Na gut, das Sakadawa-Fest wird bei Vollmond gefeiert. Einen Tag lang umkreisten die Gläubigen die Stadt, um die Geburt, die Erleuchtung und den Tod Shakyamunis zu feiern.«
»Ich dachte, die Volksrepublik hätte solche Feste verboten.«
»Seit einigen Jahren sind sie wieder erlaubt. Die Volksrepublik 233
ist auf Devisen erpicht. Dass solche Feste Touristen anziehen, haben inzwischen auch die Chinesen gemerkt. In Batang, wie in allen Orten, wo die Puja – das große Gebet – stattfindet, wurde ein Holzmast mit tausend Gebetsflaggen geschmückt und langsam aufgerichtet. Er stellt, wie du weißt, den Weltenbaum dar. Schon tagsüber flackerten überall Feuer, die wir mit Butter, Tsampa und Chang nährten. Die Sonne schimmerte hinter den Rauchschwaden wie eine Silbermünze. Alles war sehr laut und fröhlich. Wir spielten Würfelspiele, warfen Glückszettel in die Luft, tranken süßes Guingdao und jede Menge Chang. Dann, bei Nachteinbruch, schwiegen Kassettenrecorder und Lautsprecher. Auf den Dächern wurden die großen Klostertrompeten geblasen, und die Muschelhörner erklangen in einer besonderen Tonfolge, die wir ›Eu-Uu‹ nennen. Die Straßen wimmelten von Menschen, und die Nacht und die schwache Beleuchtung verwischten alle Dinge, zeichneten die Umrisse der Gesichter im Helldunkel nach. Ich wanderte mit der Menge, in der trockenen, von statischer Elektrizität knisternden Luft.
Die Nacht würde Kälte bringen, doch vorerst spürte man sie noch kaum. Unser Leben ist hart, aber Feste sind Momente des Vergessens, und da lieben wir es, so schön wie möglich gekleidet zu sein. Ich sah in der Dunkelheit das blutrote Schimmern der Korallen, das Leuchten der Bernsteinketten. Als die Schauspieler auftraten, leuchtete der Mond über den Bergen, golden und rund, und die Milchstraße schlug eine Brücke von einer Himmelsseite zur anderen.
Plötzlich lief ein Beben durch die Anwesenden. In der Ferne vibrierten Trommeln. Der Wind trug das Dröhnen heran, die Luft wurde
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