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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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starken Wimpern. Doch mehr als alles andere waren es ihre Worte, die mich in Erstaunen versetzten.
    ›Du bist Atan, nicht wahr? Ich habe dich kommen lassen.‹
    Einige Atemzüge lang blieb mir die Antwort in der Kehle stecken. Offenbar hatte sie mir die Rolle des Narren zugedacht. Doch irgendetwas in ihrer Haltung, in der Art, wie sie mir gegenüberstand, strömte Ungezwungenheit aus und ein unwiderstehliches Selbstbewusstsein. Und ich ging auf ihr Spiel ein und sagte:
    ›Ja, hier bin ich. Was willst du?‹
    Sie ließ ein ersticktes Kichern hören.
    ›Es ist doch merkwürdig, wie die Dinge geschehen.‹
    Ich zerbrach mir den Kopf darüber, woher ich ihre Stimme kannte.
    ›Wer bist du?‹
    ›Ich habe jetzt eine ganz andere Stimme als früher‹, erwiderte sie, mit spürbarem Stolz. ›Mein Kehlkopf ist eng genug.‹
    Sie machte auf mich einen tiefen Eindruck. Ihre Stimme, wenn sie sprach, war deutlich, kühl und klar wie kaltes Wasser. Und gleichwohl fühlte ich mich zunehmend unbehaglicher. Ich hatte das belastende Gefühl, dass sie sehen konnte, was ich dachte, dass sie mich in diesem Augenblick besser kannte als ich mich selbst.
    ›Wer bist du?‹, wiederholte ich.
    Erneut wich sie der Frage aus, antwortete scheinbar beziehungslos.
    ›Träume zu formen ist nicht schwierig. Für mich jedenfalls nicht.
    Bei mir werden sie jede Nacht deutlicher. Ich kann sie sogar anderen 236
    Menschen zeigen. Man muss nicht sehr alt sein, um zu verstehen, wie das geht.‹
    Das waren keine Worte, die man aus dem Munde einer Wandersängerin erwarten konnte. Aber ich dachte, bei dem Leben, das sie führte, muss sie alles Mögliche gelernt haben. Und die Beklemmung, die ich dabei empfand, rührte von anderen Dingen.
    ›Hast du von mir geträumt?‹, fragte ich leichthin.
    Sie nickte.
    ›Oft sogar. Ich schloss meine Augen und sah dich. Ich kenne dich gut.‹
    Ich erwiderte, anscheinend unbekümmert:
    ›Ja, das meinen viele Frauen.‹
    ›Es ist wahr‹, sagte sie.
    Sie hob langsam beide Hände und band den Lederriemen am Hinterkopf los. Dann nahm sie die Maske von ihrem Gesicht ab; aber ihr Gesicht selbst glich einer feinen, düsteren Maske, ein Schleier von Schweiß hing darüber. Sie atmete schnell und geräuschlos, wie ein Vogel. Die lange, schmale Nase, die mandelförmigen Augen ließen ihren Mund klein wirken. Sie betrachtete mich ohne ein Wimpernzucken, mit vollem, eigensinnigem Blick.
    Wer nachts in stille Gewässer sieht, entdeckt wie Schattenbilder hängende Blätter, Moose und abgebrochene Zweige. Das Mondlicht macht sie für kurze Zeit sichtbar, während ein silbrig flatternder Schein über das Wasser treibt. So kam mir dieses Gesicht vor, aus der Tiefe der Erinnerung steigend; und mir war, als schwebe zwischen uns, wie ein Spiegelbild, ein zweites Antlitz. Ich stand wie erstarrt, ein paar Sekunden lang; da löste das Trugbild sich auf, und beide Gesichter verschmolzen zu einem einzigen.
    ›Kunsang‹, sagte ich.
    Endlich lächelte sie. Ihr Lächeln war ganz bezaubernd.
    ›Wer denn sonst, he?‹, sagte sie.
    Zum zweiten Mal in meinem Leben hatte mich das Schicksal in ihre Nähe geführt. Das Schicksal? Nein! Ihr eigener Wille war es, der unsere Begegnung herbeigeführt hatte: Ich sah es in ihren kühlen, entschlossenen Augen. Möglicherweise gab es keine Worte für Empfindungen dieser Art. Damals, im Tashi-Pakhiel-Camp, war Kunsang nur ein Kind gewesen. Die Veränderung raubte mir den Atem. Durch ihre Haltung versuchte sie die Idee zu vermitteln: ›Ich bin dir irgendwie gleich.‹
    Ich fühlte Bewunderung für ihre dunkle, magnetische Kraft.
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    Doch sie sprach weiter, warf mir die Worte geradezu ins Gesicht.
    ›Ich muss dir sagen, dass ich dich immer geliebt habe. Ich war noch klein und habe immer auf dich gewartet. Ich entsinne mich gut, einmal, da war ich krank. Ich hatte Fieber und du hast mich in deinen Armen im Zimmer herumgetragen. Und später hast du mir von einem weißen Yak erzählt, mit dem du als Kind gespielt hast.‹
    ›Sei still‹, sagte ich knapp. Doch sie ließ sich nicht einschüchtern.
    ›Wenn du zu meiner Amla kamst, war ich glücklich, und dann traurig, immer traurig. Ich wusste nicht, warum. Am Anfang ging es langsam, ich verstand nur ein bisschen, und eines Tages verstand ich alles. Und Tara… ich wollt’s ihr nicht sagen.‹
    ›Was wolltest du ihr nicht sagen?‹
    Ihre Gesichtszüge wurden hart.
    ›Diese Dinge eben. Und dann hast du mich verlassen, erinnerst du dich? Ich habe viel

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