Die Tochter der Tibeterin
geweint, damals.‹
›Ich weiß nicht mehr, wie es war‹, sagte ich.
Sie sah mir voll ins Gesicht, und ihre Augen hatten jetzt einen eigentümlichen Glanz, rätselhaft und verstohlen. Ich frage mich, ob das, was sie mir erzählte, Wahrheit oder Lüge war. Die Geschichte von Chodonla und mir bedeutete wirklich etwas, die Geschichte von Kunsang und mir stand auf einem anderen Blatt. Ich dachte an das Kind von früher, schwer zu durchschauen, vorlaut und redescheu, anmaßend und schwach, voller Überraschungen und hartnäckig auf Unabhängigkeit bedacht. Mir schien, sie war noch heute darauf aus, ihren Handlungen nachträglich einen anderen Sinn zu unterlegen.
Aber ich mochte mich täuschen. Ich konnte kein Auge von ihr wenden und merkte, wie ich tiefer und tiefer in ihren Bann geriet.
›Rongpa?‹, fragte sie plötzlich. ›Reitest du ihn noch immer?‹
Plötzlich wurde ich in die Vergangenheit zurückversetzt, sah den jungen Rappen mit den Wunden. Ich entsann mich, wie er zitterte, als ich seine Nüstern, seine Mähne berührte.
›Rongpa ist ein gutes Pferd‹, sagte ich.
›Ach, findest du?‹
›Ja, finde ich.‹
›Pferde sind besser als Menschen.‹
›Das glaube ich auch. Ich habe immer ein Pferd gehabt, ein eigenes. Aber das ist das beste von allen… und wird auch das letzte sein. Die Zeit der Pferde ist vorbei.‹
Sie erwiderte stolz:
›Ich habe Rongpa für dich ausgesucht und ihm seinen Namen 238
gegeben. Hast du das schon vergessen?‹
›Nein.‹
›Ich habe ihm erklärt, dass er dir vertrauen soll. Ich habe es ihm ganz deutlich gemacht… es ihn fühlen lassen. Pferde wissen doch, was wir denken! ‹
Der prahlerische Klang in ihrer Stimme belustigte mich. Doch gleichzeitig rührte mich ihre Aufrichtigkeit. Und das, was sie von Pferden sagte, war zweifellos richtig.
›Tatsächlich‹, erwiderte ich. ›Ich danke dir.‹
Sie hatte die tibetische Sprache nicht verlernt. Die Betonung war genau, wie sie sein musste. Aus der Vergangenheit waren ihr die richtigen Klänge geblieben. Sie irrte sich nur hin und wieder in der Satzstellung. Sie war das kleine Mädchen, das ich einst in meinen Armen getragen hatte, sie war Chodonla, und gleichzeitig war sie keine von beiden. Und sie war wieder hier, in Tibet, und zog mit einer Gruppe Wandermusikanten. Das war eine Sache, die mir Rätsel aufgab. Ich konnte den Ablauf ihrer Geschichte in keinen Zusammenhang bringen.
›Warum bist du zurückgekommen?‹, fragte ich.
›Mein Großvater ist gestorben‹, sagte sie. ›Er hat mir vieles beigebracht.‹
›Was hat er dir beigebracht?‹
›Die alten Gesänge und die Geschichten der ersten tibetischen Könige, die den Himmel liebten.‹
Es war der geläufige Ausdruck für die Begründer der Bon-Religion, unseres urtümlichen Glaubens, dessen Ausgangspunkt die Lehre der Schamanen bildete. Ein Prickeln überlief mich. Jetzt wurde mir einiges klar. Kunsang sprach weiter:
›Ich fand diese Geschichten schön und wollte immer mehr darüber wissen. Die Schule interessierte mich nicht. Ich… ich habe immer weniger getan, was mir nicht gefiel, und dann habe ich überhaupt nichts mehr getan. Ich war nur noch wütend.‹
› Wütend, warum? ‹
Sie zog die glatte Stirn kraus.
›Ich weiß nicht. Es kommt vor, dass man grundlos wütend ist. Ich habe nie ein Wort darüber gesagt. Ich habe es aufgeschrieben, aber dadurch wurde es nur noch schlimmer. Ich dachte, wenn ich so weitermache, werde ich sterben… ‹
Sie sprach gleichmäßig, als hätte sie das alles auswendig gelernt.
Ich indessen fühlte eine tiefe Unruhe, als ob die Dinge meiner 239
Umgebung mich auf unerklärliche Weise beengten. Ich betrachtete sie voller Verwunderung. Von ihrem Anblick, das wusste ich, würde ich nie wieder loskommen.
›Und deswegen wolltest du fortgehen? Weil dein Großvater dir die alten Lieder beigebracht hatte? ‹
Sie nickte, ja, richtig. Sie hatte mit Pola gesungen, und danach hatte sie begonnen, die Musik auch innerlich zu hören. Woher sie kam, wusste sie nicht. Aus den Träumen? Aus einem früheren Leben vielleicht?
›Ich habe in Tibet überall gesungen, so ziemlich die ganze Zeit über. Aber es ist ein bisschen einfach zu glauben, man sei an einem bestimmten Ort geboren. Man kann von anderen Orten stammen, he?
Ich lebte in der Schweiz, aber ich hatte keine Angst, wieder nach Tibet zu gehen. Und jetzt gefällt es mir hier viel besser als anderswo.
Man hat mir keine Schwierigkeiten gemacht, überhaupt
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