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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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waschen, auch das Haar. Hier leben? dachte ich. Mit ihm? Das würde meine Welt gehörig verändern. Sie veränderte sich 285
    ja bereits. Es lohnte sich immerhin, diesen Vorschlag in Betracht zu ziehen. Vielleicht war es gar nichts so Besonderes mehr. Ich konnte die Arbeitszeit im Krankenhaus reduzieren; ich würde weniger verdienen, aber was machte das schon aus? Mein kleines Therapiezentrum in Zürich lief gut, und mein Assistent würde die Patienten in meiner Abwesenheit betreuen. Einen Augenblick lang erwog ich die Möglichkeit ernsthaft. Ich besaß viel Sachverstand, war geschickt im Organisieren und hatte Erfahrung im Umgang mit Menschen. In der kurzen Zeit, die ich mit den Nomaden zusammen war, stand ich ganz unter dem Eindruck ihrer Würde, ihrer Leidenschaft, ihrer inneren Stärke. Alle ihre Energien, ihre gesamte Schaffenskraft sammelte und verdichtete sich zu dem Willen, ihren Glauben und ihre Kultur zu bewahren. Und dass ihre Chance womöglich eins zu hundert stand, wussten sie ganz genau. Mein Herz schmerzte, weil sie so verletzlich waren. Weltweit veränderte sich das Klima, die Wirklichkeit ließ sich nicht umdenken. Ein brutaler Winter, ein zu trockener Sommer konnte das empfindliche Gleichgewicht ihrer Wirtschaft zerstören, ihre Lebensfreude brechen, sie der Hungersnot preisgeben, Krankheiten und Seuchen ausliefern.
    Ich empfand eine Art Panik vor der Dürftigkeit ihres Daseins. Und auf einmal stellte ich fest, dass ich von der gleichen Leidenschaft für das Schicksal der Nomaden beseelt war wie Atan. Mit geradezu verzweifelter Notwendigkeit drängte es mich, etwas zu tun, als sei es bald zu spät, als sei mein Leben zu kurz für all das, was ich noch tun wollte.
    Die Seifenlauge brannte mir in den Augen. Ich spülte das Haar gründlich aus, wickelte das Handtuch wie einen Turban um meinen Kopf. Dann wechselte ich Unterwäsche und Pullover, verteilte Sonnenmilch übers Gesicht und setzte mich zu Atan ans Feuer. Ich fühlte mich gut, ausgezeichnet sogar. Atan nickte mir zu, öffnete ein Päckchen schwarzen Ziegeltees, warf die Blätter in das kochende Wasser und schüttelte die Kanne mit kreisenden Bewegungen. In einer kleinen Holzschale mischte er den Tee mit Tsampa-Mehl.
    Geschickt drehte er die Holzschale in der linken Hand, während er mit den Fingern der rechten den Teig umrührte. Er streute viel Salz hinzu, bis der Tee dickflüssig wurde. Ich mochte den Tee nicht, aber ich hatte inzwischen gelernt, dass der Körper viel Salz brauchte, und würgte stoisch das heiße Getränk herunter. Atan sah zu, mit einem ironischen Leuchten in den Augen.
    »Du willst also bleiben.«
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    »Ich habe noch keinen Entschluss gefasst«, sagte ich. »Das geht nicht so schnell… «
    Er blinzelte mir zu.
    »Du wirst dich rühmen können, mich an der Nase herumgeführt zu haben.«
    Ich drückte die warme Schale an meine Wange.
    »Etwas kann ich dir sagen: Ich bin gerne hier.«
    »Das hört sich schon ganz gut an.«
    »Und… vielleicht kann ich helfen.«
    »Auf jeden Fall.«
    Dann sagte er nichts mehr; ich bemerkte, wie seine Hände leicht zitterten. Wir tranken stumm unseren Tee. Wirklich, es war so ein wunderbarer Morgen, eiskalt und köstlich. Ich blickte über die Landschaft; sie kam mir eigenartig vertraut vor, rau und ursprünglich und scharf umrissen wie ein Bild von Ferdinand Hodler. Ich war für diese Landschaft geschaffen, in dieser Realität hatte ich Wurzeln. Es war wie ein Leben, das ich schon früher gelebt hatte, lange bevor ich geboren wurde. Meine Vorfahren waren schon vor Tausenden Jahren hier gestorben, und mein Vater erst kürzlich, aber nicht dort, wo er hingehörte, sondern in einem fernen, fremden Land. Die Geschichte begann vor langer Zeit, erstreckte sich über viele Generationen, über den ganzen Erdball. Atan, was ich dir noch nicht gesagt habe, was mir erst jetzt richtig bewusst geworden ist: Zwischen uns ist es nicht mehr wie vorher. Nein. Während der ganzen Zeit, als wir uns so nahestanden, wusste ich nie, wer du warst. Wenn ich dich sah, an dich dachte, dich berührte, warst du immer anders, ein Fremder. Jetzt plötzlich begreife ich, dass ich nie richtig gewusst hatte, wer ich war und wo ich war. Ich hatte mich verloren und suchte mich selbst. Jetzt habe ich endlich eine Idee davon, wer ich bin, wo ich hingehöre, und auch von dem, was wir unter Wiedergeburt verstehen, dieser Gedanke, der so wichtig für uns ist, der im Mittelpunkt unseres Leben steht, uns immer wieder Mut und Kraft

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