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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Götter ging, die die Erde befruchteten wie ein Mann eine schöne Frau. Auch der Abt und die Lamas schmunzelten: Hierzulande war man nicht prüde. Es war ja auch nur natürlich, dass der Mensch seine eigenen Handlungen mit den kosmischen Kräften in Beziehung brachte. Und wer wusste besser als die Äbte und Lamas von den machtgeladenen Riten und Bräuchen? Was ich hier erlebte, war Urtheater, seit Tausenden von Jahren lebendig. Religion und Magie, Mythos und Kunst waren darin verwoben.
    Yuthok trat ehrfürchtig näher, verneigte sich vor Sherab Rimpoche, der ihr eine weiße Kata um die Schultern legte. Sie faltete ihre Hände, empfing seinen Segen. Für einen Augenblick verwandelte sich ihr Antlitz, und eine Gänsehaut überlief mich: Diese Frau hatte ein Gesicht wie das Schicksal selbst; ihr Ausdruck war jenseits von Schmerz, jenseits von Verzweiflung, mit einer aus tiefstem Herzen kommenden Hinnahme der Gegebenheiten dieser Welt. Doch der Ausdruck währte nur einen Atemzug lang; schon zeigte sie ein verschlagenes Grinsen; sie hüpfte rückwärts davon, wobei sie mit dem Hinterteil wackelte, was bei Zuschauern abermals Lachsalven auslöste. Als ich ihr mit den Augen folgte, erstarrte ich plötzlich: Kunsang, die bisher inmitten der Schauspieler gewartet hatte, trat jetzt ein paar Schritte näher. Sie hatte ihre Maske abgenommen, die ihr wie ein zweites, gespenstisches Antlitz auf der Brust hing. Fast zwei Jahre waren es her, dass ich sie nicht mehr gesehen hatte. Nun erblickte ich das Gesicht einer Fremden. Die Augen waren scharf, die Wangenknochen hoch und rund. Die rotgeschminkten, sinnlichen Lippen bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu dem kantigen, fast männlich markanten Kinn. Es war 292
    eine Härte in diesem Gesicht, und gleichzeitig auch eine Verletzlichkeit, etwas, das nicht zusammenpasste. Da bemerkte ich eine Bewegung in ihrer Nähe und erblickte, ganz vorn unter den Zuschauern ein kleines Mädchen, das ich zu kennen glaubte. Ja, es war Longsela. Ihr Gesicht zeigte nicht die geringste Ergriffenheit, nur reine, kindliche Freude. Sie war die erste, die sich mit einer völlig natürlichen, fast nachlässigen Bewegung der Sängerin zu Füßen setzte. Und alle nahestehenden Zuschauer folgten ihrem Beispiel, einer nach dem anderen, und ließen sich auf den Boden nieder. Nur die Zuschauer ganz hinten standen, um die Sängerin sehen zu können. All diese Gesichter, so unterschiedlich sie auch sein mochten, waren jetzt der Sängerin mit der gleichen kindlichen Erwartung und Spannung zugewandt.
    Ich dachte, sie muss dabei von dem größten Glück, dem lebendigsten Gefühl erfüllt sein, das eine Künstlerin zu empfinden vermag: dem Gefühl, mit ihrer Fähigkeit diese Menschen zu erfreuen. Noch während ich sie anstarrte, hob Kunsang beide ausgestreckten Hände. Sie machte eine sonderbare Bewegung mit dem Mund, als ob sie ihre Zunge befeuchtete oder verstohlen etwas herunterschluckte. Unruhe und Flüstern verklangen. Schweigen senkte sich über die Menge. Denn Kunsang hatte zu singen begonnen. Sie blickte empor: Ihre Augen schwammen, als ob ihr die Kraft des Gesanges gegen ihren Willen gegeben wäre und ihr körperliche Schmerzen zufügte. Vielleicht stimmte es sogar, dachte ich. Wie konnte sie sonst ihre Stimme auf diese Weise gebrauchen?
    Wie brachte sie es fertig, ohne Lautsprecher bis in die hintersten Reihen gehört zu werden? Kunsangs Gesicht war verwandelt, entrückt. Manchmal stieß sie ganz eigentümliche Laute aus, ihre Zunge schlug gegen den Gaumen, erzeugte verschiedene Tonlagen.
    Diese Stimme! Sie strömte aus ihr, rasselte wie eine Zimbel, schmeichelte wie eine Nachtigall oder schepperte wie Kiesel, die hart über die Bergflanke rollten. Es schien mir ein Wunder, dass eine menschliche Kehle solche Töne hervorbringen konnte. Das Schweigen der Menge war so vollkommen, so tief, dass man das Rauschen des Windes von den Gipfeln herab vernahm. Umso mehr fuhr ich zusammen, als ich auf einmal, mitten unter den Zuschauern, einige Soldaten in der grünen Uniform der Volksarmee entdeckte.
    Auch Atan hatte sie gesehen. Nach einer Weile entfernten sich die Chinesen. Doch Atan verfolgte sie mit den Augen, solange sie in der Menge sichtbar waren.
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    »Was ist los?«, flüsterte ich nervös. Er schnalzte erbost mit der Zunge.
    »Die haben hier nichts zu suchen!«
    Ich konnte nicht sagen, ob auch Kunsang die Soldaten erblickt hatte, aber ihre Stimme hatte sich plötzlich verändert. Sie sang nun in langen,

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