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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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sprechen, sagen wir › unser Land‹ und denken dabei nicht an China. Wir sind die Bäume, die blühen und Früchte tragen. Das meine ich wörtlich.
    Da, sieh dir nur die Mädchen an!«
    Das Licht wurde orangerot, die Hitze schwächer. Unzählige Lagerfeuer flackerten in der Dunkelheit. Die Mädchen tanzten den Dro mit schwingenden Armbewegungen und stampfenden Füßen.
    Das rhythmische Händeklatschen schallte weit durch den Abend. Die Männer tranken und sahen zu, schwarze Gestalten, wie mit Tusche auf dem Rot der Flammen gemalt. Die Haut der Mädchen schimmerte olivenfarben, ihre Zähne blitzten, die Zöpfe schwangen um ihre erhitzten Wangen. Ihr beschleunigter Atem hob und senkte die Korallenketten auf ihrer Brust, die Silberamulette blinkten, die schweren Röcke wirbelten wie Glocken um ihre bestickten Schaftstiefel. Einige Männer spielten Flöte, schwangen kleine, mit Schellen besetzte Trommeln, die an beiden Enden mit den Fingern geschlagen wurden. Sie warfen ihre Instrumente in die Luft, wo sie sich ein oder zwei Mal drehten, und fingen sie geschickt wieder auf.
    Unter ihnen waren bekannte Künstler, junge oder alte, die der Dranyen, der tibetischen Laute, die einen Pferde- oder Drachenkopf hatte, Kaskaden vibrierender Töne entlockte.
    Später gesellten sich die jungen Männer zu den Mädchen, paarweise oder in Gruppen; ihr Tanz war gleichsam voller Grazie.
    Sie drehten und wirbelten immer schneller herum, vom Trommelklang begleitet. Nichts regelte ihre Schritte, nichts vereinigte sie miteinander. Oder vielmehr: Jeder war Herr darüber, seinen Körper völlig dem Rhythmus zu überlassen. Jeder stieß die Töne ganz nach Wunsch und Gefühl aus: Bei dem einen herrschte 281
    Freude vor, bei dem anderen Sehnsucht, bei dem einen Klage, beim nächsten Triumph. Und dennoch war in diesen zügellosen Bewegungen, in diesen Stimmen ohne jeden Takt und Zusammenklang eine absolute Einheit, eine faszinierende Harmonie zu spüren, die von keinerlei Regel bestimmt war, aber bis in die Eingeweide drang. Auch Atan und ich tranken; der Chang löschte den Durst, schmeckte verführerisch süß, so dass man die Wirkung nicht sofort spürte.
    Ich fühlte mich angesteckt von dem Rausch des Tanzes, dem tiefen Fieber des Blutes, und als zwei Frauen mich an den Händen fassten, mich in ihren Kreis zogen, erwiderte ich ihr Lachen, passte mich ihren Schritten an, drehte mich um mich selbst in einer Wolke von Wacholderdunst. Ununterbrochen zirpten Flöten, schlugen Zimbeln, dröhnten Trommeln und Tamburine. Und während mich die Frauen mit Rufen und Händeklatschen anfeuerten, nahm ich Atans Hand, zog ihn in den Kreis. Er folgte mir, tanzte mit aller Eleganz; die Jahre schienen von ihm abgefallen, sein Gesicht war jugendlich und entrückt. Die Musiker hämmerten die Töne in schnellem, straffem Rhythmus, das Klatschen der Hände wurde von Keuchen und Zischen begleitet. Atan warf sein langes Haar aus dem Gesicht, wir lachten uns an, drehten und wirbelten herum im Feuerschein, wurden eins mit unserer Sehnsucht, unseren Träumen.
    In den fortschreitenden Nachtstunden erschien mir die Menge der Tanzenden, die meinem Herzen so nahe waren, zunehmend irrealer, zusammengefügt aus jenem Stoff, aus dem wir die Erinnerungen weben. Das Wunderbarste daran war, dieses Gefühl so grenzenlos zu erleben, dass es dafür keine Worte gab. Ich, die es gewohnt war, alles zu erforschen, abzuwägen, zu analysieren, merkte, wie es in mir immer stiller wurde. Und so sah ich mich tanzen, wie ich noch nie getanzt hatte, und fühlte mich denken, wie ich nie gedacht hatte. Es heißt, es gibt so etwas wie Höhenrausch; vielleicht stimmte es, dass einem auf großen Höhen diese seltsam gehobene Stimmung überkommt, diese Art Verzückung. Vielleicht war es das, vielleicht hatte ich aber auch ganz einfach zuviel Chang getrunken und stolperte in Fallen, die mir meine Phantasie stellte. Immer deutlicher wurde die Wirklichkeit zum Traum, und ich glaubte an den Traum und nicht mehr an die Wirklichkeit. Die tanzenden Nomaden empfingen mich in ihrem Kreis, ich war eine von ihnen, nicht mehr, nicht weniger. Und keiner wunderte sich, dass zu späteren Stunden sentimentale Slow- oder heiße Discotänze folgten. Auch das gehörte 282
    dazu. Und noch später, kurz vor Tagesanbruch, als die Musik endlich schwieg, brachte der Wind ein fernes Knirschen und Klingen. Weit unten im Tal polterten Bagger.
    »Sie arbeiten mit Nachtschicht«, sagte Atan. »Sie scheinen es mit dem Bau der

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