Die Tochter der Tibeterin
aufzuheben. Die Reiter beugten sich mit angezogenen Knien fast eine Armlänge aus dem Sattel. Sie stemmten die Fersen ganz fest in die schwitzenden Flanken, ihr sehniger Rücken war gestreckt, ihre Schultern dicht an das Pferd gepresst. Im vollen Galopp warfen sie ihren linken Arm weit nach vorn, ergriffen ihre Beute und schwangen sie, in ihren Steigbügeln aufrecht stehend, hoch über den Kopf! Die Zuschauer jubelten, Frauen winkten mit bunten Tüchern, der Beifall nahm kein Ende.
Doch das beliebteste aller Spiele war, mit dem Gewehr in rasendem Galopp eine Zielscheibe zu treffen. Dabei waren die Gewehre nur mit Schießpulver gefüllt, so dass die winkende und jauchzende Masse der Zuschauer in die Flintenläufe sehen konnte, ohne Gefahr, dass jemand verletzt wurde. Besondere Lobgesänge ehrten die Sieger und ihre Pferde, während man die Verlierer mit Spottversen unter viel Gelächter verhöhnte.
»Wir glauben«, sagte Atan, »dass die Reiterspiele die Götter erfreuen. Glückliche Götter schenken den Menschen ihre Gunst.«
»Eine uralte Vorstellung, Atan.«
»Mir scheint, dass sie nach wie vor tauglich ist.«
Ich dachte an die ferne, prosaische Schweiz, in der ich lebte und arbeitete. Ja, ich hatte mich eingewöhnt, mein Leben war nicht unbefriedigend. Aber in dieser Welt erschienen mir alle Wertungen sinnlos, sowohl die negativen als auch die positiven. Ich hatte die Khampas stets für Pragmatiker gehalten, aber es gab so viele Widersprüche in ihrer Lebensart, in ihrer Neigung zum Paradoxen, 279
ihrer Liebe zur Erde, ihrer Neugierde und ihrem Hochmut. Sie verehrten ihre Vorfahren und wollten keinem Fremden erlauben, in ihrer Geschichte herumzuwühlen. Worte wie »demokratische Volksdiktatur« ernteten bei ihnen nur ein Schulterzucken, und den Begriff »feudalistisch« sahen sie als schmeichelhaft an. Atan sagte:
»Wir suchen nicht nach Dingen, die unserem Leben einen Sinn geben könnten. Hier ist etwas, das uns liebt, ein uralter Zauber. Und es ist kein Zustand, den es nicht mehr gibt.«
»Ja«, sagte ich, »das hier macht einen Unterschied.«
»Jeder Mensch muss für etwas leben, das für ihn von Bedeutung ist«, erwiderte er.
Ich nickte.
»Ja, und man kann es mit einem Schlag erfahren.«
Er ließ mich nicht aus den Augen.
»Wie meinst du das?«
»Ich denke zuviel«, seufzte ich. »Mir ist dabei ganz seltsam zumute. Und ich zweifle zuviel, was auf dasselbe hinausläuft.«
»Unsere Erde ist heilig«, sagte Atan, »und ich glaube, diese Heiligkeit kann sich auf den menschlichen Geist übertragen. Darüber braucht man nicht viel nachzudenken. Man kann es auch spüren, wenn man einem Pferd in die Augen schaut. Oder das Ohr an den Boden legt und tief drinnen ein Geräusch hört, wie das Zirpen von Grillen. Das sind die Wurzeln, die wachsen und sich durch die Erde zwängen. Solche Dinge meine ich. Und jeden Morgen, nach dem Aufstehen, spreche ich das Zufluchtsmantra, wie wir alle.«
»Wie wir alle?«, murmelte ich, etwas spöttisch. »Nein, ich nicht.
Manchmal vergesse ich es. Amla sagt, es ist eine Schande. Aber ich kann nichts dafür. Meine Gedanken laufen immer im Kreis, ich komme von ihnen nicht los.«
Jetzt lächelte er.
»Der Kreis ist das Mandala. Sei doch zufrieden.«
»Hast du immer das letzte Wort?«
»Meistens.«
Ich lachte. Ich hielt das Gebet nicht so genau ein wie er: jeden Morgen leise das Mantra sprechen, die Innenfläche der gestreckten Hände zusammenlegen, zuerst über der Stirn, dann vor der Kehle und schließlich vor dem Herzen. In dieser Abfolge symbolisierte die Geste die Reinigung von Geist, Sprache und Körper.
»Es ist gar nicht so einfach«, meinte Atan »sich in Religion zu vertiefen, wo doch der Kommunismus der Metaphysik den Krieg 280
erklärt hat und primitive Biologie predigt statt die Lehre der Wiedergeburt. Es gab eine Zeit, da glaubte ich, wir seien am Ende.
Heute schwirren die Geisterlichter wieder über die Berge, und die Chinesen fühlen sich nicht gut in ihrer Haut. Das würden sie natürlich niemals zugeben, aber ganz tief drinnen empfinden sie es doch so.«
Atan war stets nüchtern, manchmal ironisch, auch dann, wenn er von Geistern sprach; sie gehörten ja zu seiner Welt.
»Und trotzdem fahrt ihr chinesische Motorräder, esst mit Stäbchen und konsumiert Hongkong-Videos.«
»Macht dir das Sorgen? Mir nicht. Inzwischen esse sogar ich Nudeln. Wir leben sachlich, wenn es geht, mit Genuss, und Nudeln schmecken nicht schlecht. Aber sobald wir von Tibet
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