Die Tochter der Tibeterin
taumelnd zusammenbrach, brach die Menge in Empörungsschreie aus. Da dröhnten die Trommeln mit aller Wucht, und vor dem Jäger erschien plötzlich Ksitipati, die »Herrin der Leichenäcker«. Ihr Gesicht war hinter einem grinsenden Totenschädel verborgen, und über ihrem schwarzen Gewand war ein netzartiger Schurz aus Knochenketten befestigt. Die Zuschauer stöhnten auf, ehrfürchtig und verängstigt.
Drohend trat Ksitipati dem Jäger entgegen, hob mit beiden Händen ihren klappernden Schurz und breitete ihn aus. Der Jäger erschrak und versprach, sich zu bessern. Als ein junger »Prinz« des Weges kam, führte ihn der Jäger zu der verletzten Hirschkuh. Der Prinz, von Mitleid ergriffen, pflegte die Hirschkuh, die plötzlich ihr Tierfell abwarf, und vor dem Prinzen stand eine wunderschöne Prinzessin.
Die »Herrin der Leichenäcker« führte sie dem Prinzen zu und segnete beide. Die Menge jauchzte, brach in tosenden Beifall aus.
»Solche Spiele sind uralt«, erklärte mir Atan. »Der Jäger, eigentlich eine negative Figur, wird in diesem Stück zum Vermittler zwischen dem Prinzenpaar. Und die ›Herrin der Leichenäcker‹ zeigt ihre tiefere Bedeutung als Fruchtbarkeitsgöttin. Bei uns treten solche 290
Gestalten zu Neujahr oder nach der Ernte – am fünfzehnten des siebten Monats – in Erscheinung. In dieser besonderen Zeit treffen Menschen und Götter, Lebende und Tote zusammen und messen sich in Wettkampf und Spiel. Das glauben wir noch heute, und so muss es auch sein.«
Inzwischen verließen die Schauspieler die Bühne, um den Ehrengästen vom Kloster ihre Aufwartung zu machen. Die Grundform ihrer Bewegungen war ein Hochheben der Füße, ein kleiner Sprung und zwei stampfende Schritte. Dabei tanzten und wirbelten sie mit merkwürdig erstickten Grunzlauten, schwangen heftig die Arme, bald sich niederkauernd, dann sich erhebend. Die Menge feuerte sie an, mit Zurufen, Gelächter und Händeklatschen.
Das Dröhnen der Trommel, das Trillern der großen Hirtenflöten, das aufreizende Rasseln der Schellen skandierte jede Bewegung.
Staubwolken flimmerten im Sonnenschein, verwandelten die Landschaft in ein verworrenes Dunstbild schimmernder Formen und Farben. Jeder Windstoß brachte den Geruch von trockenem Pferdemist, Wollstoffen, Wacholderrauch und Ziegenfell. Ich ließ die Augen nicht von Kunsang. Sie schwang ihren Speer, schüttelte die Glocke mit kräftigen Bewegungen ihres bis zum Ellbogen entblößten Arms. Sie war immer schmächtig gewesen, zeitweise sogar dünn. Jetzt aber sah ich unter der braunen Haut lange, sehnige Muskeln. Sie war gewachsen, stellte ich fest – sie war ebenso groß wie ich.
Nun stapften die Schauspieler auf den Abt und die hohen Lamas zu. Die »Herrin der Leichenäcker« führte den Zug an. Sherab Rimpoche in seinem gelben, raschelnden Gewand hatte auf einem hohen Sitz Platz genommen. Die Mönche saßen eng zusammen mit untergeschlagenen Beinen am Boden. Novizen kicherten und flüsterten ausgelassen wie Schulkinder. Die Lamas tranken Tee aus silbernen Schalen, und etwas abseits standen Teeköche vor großen Kesseln, rührten mit Stangen im dampfenden Tee. Ein weißes Zeltdach dämpfte die Sonne, tauchte alle Gesichter in helles, verschwommenes Licht. Ein paar Schritte vor den Ehrengästen zeigte die Ksitipati eine besondere Pantomime. Die Art, wie sie mit gespreizten Beinen ruckartig ihr Becken bewegte, sah obszön aus, sie war es jedoch nicht. Dabei hielt sie ihr Gesicht – den Totenschädel – stets den hohen Lamas zugewandt. In ihrem Gürtel steckte eine Rute, die mit einem Grasbüschel versehen war, der wie ein seltsamer Kopfputz über den Totenschädel ragte. Vor Sherab 291
Rimpoche angekommen, riss sie plötzlich die Rute aus dem Gürtel, schwang sie mit weitausholenden Gesten über die Köpfe der Lamas.
Dabei stieß sie einen merkwürdigen rauen Schrei aus, einem Kampfschrei ähnlich, pflanzte die Rute in den Boden und hob mit beiden Händen ihre Totenschädel-Maske. Atan brauchte mir den Namen der Frau nicht zu sagen; ich wusste, dass es Yuthok war. Ihr eisgraues Haar, einem Dachsfell ähnlich, hing struppig um ein kupferbraunes Gesicht mit eingesunkenen Lidern, ein Gesicht wie aus Stein, dessen Umrisse wohlgeformt waren. Sie musste – vor langen Jahren – eine Schönheit gewesen sein. Nun hielt sie im beschwörenden Singsang eine Rede, die unter den Zuschauern Gelächter auslöste. Ich verstand von dem archaischen Dialekt nur so viel, dass es um den Segen der
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