Die Tochter der Tibeterin
dass sie sich die Gelegenheit entgehen lassen?«
»Wie hast du es erfahren?«
»Wir haben einen Go-Niba ein wenig in die Zange genommen.
Er hat geredet. Und wenn er auch nur halbwegs die Wahrheit gesagt hat, ist der Abt so gut wie tot. Mir geht das gehörig gegen den Strich.«
Ich erkannte wohl, dass er wusste, was er sagte. Er war mir zutiefst im Gedächtnis geblieben, dieser geheime Schatten einer Gefahr. Und jetzt verbreitete sich der Schatten und ließ mein Herz erkalten.
»Und was hast du jetzt vor?«
»Wir versammeln uns hinter der Mönchsschule Tiksen. Das Fest darf nicht gestört werden, sonst fassen die Chinesen Misstrauen.
Inzwischen reiten wir zum Kloster und bringen Sherab Rimpoche in Sicherheit.«
Ich seufzte.
»Wird das, was du tun willst, Sherab Rimpoche glücklich machen?«
Er verzog unfroh die Lippen.
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»So, wie ich ihn kenne, wird er uns kein freundliches Lächeln schenken.«
»Glaubst du, dass ihr es schaffen könnt?«
»Nur, wenn sein Herz durchhält.«
Rasch entschlossen ergriff ich meinen Rucksack, schnallte ihn um die Schultern.
»Ich komme mit, Atan. Ich habe einige Mittel dabei. Für alle Fälle.«
Mir war absolut klar, dass ich mich in eine dumme Geschichte einließ. Doch Atan besaß jene eigentümliche Kombination von Mut und Instinkt, die gefährliche Glücksspieler auszeichnet. Er betrachtete mich scharf, bevor er nickte.
»Vielleicht ist es ganz gut, wenn eine Frau dabei ist. Das erregt weniger Argwohn. Ich werde dir eine Reittier besorgen.«
Die Nomaden beachteten uns nicht, vergnügten sich mit allerlei Spielen – Pferderennen, Bogenschießen, Tauziehen. Doch mein Sinn war auf anderes gerichtet. Ich beobachtete, wie Atan mit verschiedenen Männer ein verstohlenes Zeichen tauschte. Worte wurden nicht gewechselt – das hätte bemerkt werden können, wenn jemand in Hörweite war. Ich war zu erregt, um nachzudenken. Ob ich mich wirklich in Gefahr begab oder nicht, konnte ich nicht genau sagen. Doch mir war mulmig zumute.
In der Zeit der Kulturrevolution hatten die Rotgardisten, wie es hieß, »eiserne Besen geschwungen und mit wuchtigen Keulen zugeschlagen«. Prosaischer ausgedrückt: Sie hatten Tempel und Klöster zerstört, goldene Statuen zerschlagen und eingeschmolzen, das Holz aus den Mauern gezogen, mit Hammer und Spitzhacke jahrhundertealte Heiligtümer dem Erdboden gleichgemacht. Das war in den sechziger Jahren gewesen; noch heute waren viele Gebäude nicht mehr als ein Haufen aus Steinen, Mörtel und Schutt. Auch von der Mönchsschule Tiksen, unten am Berghang, standen nur noch die Mauern, aus denen verfaulte Balken ragten. Der Rest eines Torbogens hing schief über dem Weg. An den brandgeschwärzten Steinen hing ein Seil, an dem neue himmelblaue Gebetsfahnen flatterten. Offenbar wurde der Ort noch in Ehren gehalten. Aber zwischen den Steinen glitzerten Scherben, rostete Eisenschrott. Der Lärm des Festes drang nicht bis hierher, und die Grabesstille, die über den Ruinen lag, schien nicht zu dieser Welt zu gehören. Nur die Abendsonne schien, und die Wärme, die sie verursachte, gab mir ein paradoxes Gefühl der Ruhe, die es mir möglich machte, all meine 311
Eindrücke als etwas Alltägliches zu empfinden.
Atan hatte mir ein Maultier besorgt. Entgegen vorgefassten Meinungen sind Maultiere klug. Mein Maultier, dem man seines grauen Fells wegen den Namen Jojo – Vater – gegeben hatte, merkte bald, dass es seiner Reiterin keine Launen zumuten konnte, und gebärdete sich äußerst sanftmütig und vernünftig. Atan ritt Rongpa; der Hengst war nicht gesattelt und trug ein federleichtes Zaumzeug aus Rosshaar. Dort, wo wir erwartet wurden, war kein guter Ort für das Klirren eines Steigbügels oder das Quietschen von Sattelleder.
Im Schutz der Ruinen wartete im Buschwerk ein halbes Dutzend Männer mit ihren Pferden. Sie sprachen nur flüsternd und bewegten sich kaum. Ihre Gesichter waren hochmütig, ihre breiten Schultern leicht nach vorn geneigt – in der halb gebückten Haltung der Männer, die immer bereit sein, nach der Waffe zu greifen oder in Deckung zu springen. Sie trugen nach wie vor ihre farbenfrohe Tracht, ihre alten Zierwaffen. Auf diese Weise, nahm ich an, würden sie am heutigen Tag weniger Aufsehen erregen. Außer dem Jüngsten unter ihnen – Chokra – kannte ich keinen dieser Männer. Ich hätte gern gewusst, wer sie waren. Etwas in ihrer Haltung war zu ruhig, zu gleichmütig. Ihr Benehmen zeigte allzuviel Vertrautheit mit solchen
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