Die Tochter der Tibeterin
Bergflanke. Eine Zeitlang stiegen wir durch das Gewirr von Busch und Geröll hinauf. Die Männer halfen mir über ein paar heikle Stellen hinweg. Doch was von der Straße aufstieg, waren nicht die üblichen Geräusche der Nacht. Lichtpunkte bewegten sich. Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Ich weiß, warum ich niemals froh bin, chinesisches Militär zu sehen«, sagte Atan grimmig.
»Es wird ziemlich arg werden«, raunte Chokra. »Was sollen wir tun?«
»Nichts. Weiterklettern!«
Wir alle dachten das gleiche. Vielleicht war Sherab Rimpoche schon in Haft? Das Kloster war jetzt ganz nahe. Aber was dann?
Was erwartete uns dort? Meine Zähne gruben sich in die Unterlippe.
Würde Sherab Rimpoches Flucht gelingen, oder würden die Soldaten auch uns gefangennehmen? Ich versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen.
»Holen wir den Abt da heraus, werden sie uns verfolgen wie Bluthunde.«
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»Ja, aber es ist eine gute, dunkle Nacht«, erwiderte Atan. »Sie werden unserer Fährte mit den Fingern folgen müssen.«
Ich sah nach oben. Die Felswand mochte noch fünfzig Meter hoch sein. Kein großes Hindernis mehr. Der dunkle Hang war eine Verschachtelung von Platten, Türmen, Simsen. Doch die Felsen waren freundlich und schüttelten uns nicht ab. Ich war das Klettern nicht gewohnt; meine Kräfte nahmen ab. Ich schwitzte bei jeder Bewegung, der Nachtwind trocknete den Schweiß, doch schon in der nächste Minute schwitzte ich wieder. Der letzte Teil, gleich unter der Klostermauer, war ein mühsames Kriechen und Suchen. Endlich erreichten wir unser Ziel, kauerten erschöpft am Felshang, unterhalb der Straße, und spähten hinauf.
»Wo sind die Brüder Taring?«, flüstere ich.
»Schon oben«, erwiderte Chokra ebenso leise. »Die haben mehr Glück als wir.«
Atan legte ihm leicht die Hand auf die Schulter.
»Ich fürchte, nicht.«
Dicht über uns knatterten Motoren, zogen Lichtkegel ihre helle Bahn durch die Nacht. Reifen knirschten über den frisch aufgeschütteten Sand. Atemlos krochen wir dicht neben dem Asphaltband entlang. Ein Militärlastwagen stand dicht vor dem Klostertor. Der Fahrer stand wartend da, rauchte eine Zigarette und unterhielt sich mit den Soldaten. Wir duckten uns tiefer; das Gelände bot hier wenig Schutz. Plötzlich leuchteten Taschenlampen auf.
Lichtkegel hüpften über die Mauern, warfen gespenstische Schatten auf jeden Stein. Wir hörten Zurufe, Befehle, das Geräusch eisenbeschlagener Stiefel. Aus der Dunkelheit gellte ein Befehl.
Soldaten winkten mit Taschenlampen. Einige Männer traten aus den Torbogen. Sie stießen und zerrten zwei taumelnde Gestalten, mit Stricken gefesselt, trieben sie mit Kolbenschlägen in die Wagen.
Atan und Chokra atmeten laut und keuchend die angehaltene Luft aus.
»Die Brüder Taring!« Chokra stieß die Worte hervor. »Wozu sind die auf den verfluchten Berg gekrochen?«
»Mund halten!«, zischte Atan.
Ich kämpfte gegen meine Benommenheit an, die mich alles nur verschwommen sehen ließ. Es war ein grässliches Gefühl vollkommener Ohnmacht. Wieder traten Soldaten in die kreisrunden Lichtflecken. Sie zogen einen Mann, der sich nicht auf den Beinen halten konnte. Sie hatten ihn unter den Armen gepackt und schleiften 317
ihn, eine dunkle Blutspur im Sand zurücklassend, zum Lastwagen.
Ich sah das gelbe Aufleuchten einer Mönchsrobe, als beide Soldaten ihn fester packten, mit vereinten Kräften hochhoben und wie ein schlaffes Bündel in das wartende Fahrzeug warfen. Zum Schluss wurden einige junge Mönche in den Lastwagen gestoßen. Dann schlugen die Soldaten die Ladeklappe zu, der Fahrer warf die Zigarette weg und stieg ein. Der Motor wurde angelassen. Zwei Militärjeeps fuhren voran, dann setzte sich der Lastwagen in Bewegung. Die Fahrzeuge holperten schwerfällig über den frischen Teer. Die durchgetretenen Bremsen kreischten. Die Straße mit ihren Kurven und Serpentinen zwang alle zum gleichen Tempo. Die Wagen fuhren so dicht an uns vorbei, dass sie uns eine Wolke Staub und Abgase ins Gesicht wirbelten. Die Scheinwerfer, die uns kurzzeitig geblendet hatten, entfernten sich. Dunkelheit und Stille legten sich über die Landschaft. Nur in der Ferne schimmerte grünlich die trübe Stadtbeleuchtung, und das Licht der Sterne, blass wie Silber, tropfte vom Himmel.
Atan brach als erster das lastende Schweigen.
»Sie waren schlauer als wir. Dagegen habe ich was.«
Chokra nickte ihm wütend zu.
»Ja. Und für Sherab Rimpoche ist die Sache gelaufen.«
»Was wird
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