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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Bus. Doch wir sahen, dass die Chinesen an mehreren Stellen Straßensperren errichtet hatten. Die Soldaten ließen die Reisenden aussteigen, kontrollierten die Passierscheine, durchsuchten das Gepäck. In der Nachmittagshitze standen Männer und Frauen schicksalsergeben, bis sie an die Reihe kamen. Plötzlich winkten die Soldaten die Pilger auf die Seite. Militärfahrzeuge – fünf an der Zahl – rollten langsam vorbei. Die Straße zum Kloster war steil, reich an Kurven und Serpentinen. Auf der einen Seite: ein Felsengewirr. Auf der anderen: der Abgrund. Die Straße war oftmals so schmal, dass die Fahrzeuge ihre ganze Breite einnahmen und die Räder den unbefestigten Rand am Abgrund streiften. Eine ungeschickte Bewegung des Fahrers, das kleinste Versagen des Motors oder der Bremsen, und die Wagen mussten im Abgrund zerschellen. Doch die Soldaten unter den Planen saßen völlig unbeweglich.
    »Zu spät!«, hörte ich Chokra murmeln.
    Und dann sprach niemand mehr, eine ganze Weile lang.
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32. Kapitel

    D er Berg, auf dem man das Kloster gebaut hatte, stieg terrassenförmig wie ein Amphitheater an. Das Kiefer- und Tannengehölz, das uns als Deckung diente, ragte mit schmalen Waldzungen in den Talgrund vor. Es ging ein leichter Südwind, der Staubwolken brachte. Wir waren abgestiegen, hatten unseren Reittieren die Vorderfüße gefesselt und kauerten im Kreis, um zu beraten. Die Soldaten würden die Nacht abwarten; da waren sich alle einig. Die Pilger waren zu zahlreich, und unter ihnen konnten sich Touristen befinden. Die Chinesen fürchteten nichts so sehr wie Fotos, die einen Volksaufstand zeigten. Solche Fotos schadeten ihrem Ruf als demokratische Nation.
    Die Beratung dauerte nur kurz. Schon bald hatten sie ihren Entschluss gefasst. Zwei Männer würden die Pferde bewachen und ihnen, wenn es nötig war, die Nüstern zuhalten. Auch durften die Reittiere nicht zu nahe an die Festung gebracht werden: Wehte der Wind aus der falschen Richtung, konnten die Chinesen Pferdemist und Schweiß riechen. Atan, Chokra und ich würden über den Hügelkamm zum Kloster steigen. Der Weg war ungefährlich, auch bei Nacht. Kunga und Basang Taring waren nicht nur Brüder, sondern auch geübte Kletterer; sie schlugen vor, über den Westhang zu gehen. Es war der schnellste Weg, aber auch der schwierigste –
    lumpige fünfzig Meter, die es in sich hatten. Die Brüder Taring schien das gleichgültig zu lassen, vollkommen gleichgültig. Dass wir uns trennten, war eine gute Überlegung. Würde eine Gruppe aufgehalten, konnte die andere vielleicht durchkommen.
    »Die Bastarde sind nicht von gestern«, sagte der kupferhäutige Kunga. »Unsere Chancen stehen schlecht. Aber wir können es schaffen, wenn wir uns beeilen.«
    Er erklärte, dass man vom Westhang aus über eine Gratkante die Koch- und Vorratsräume erreichen konnte. Dahinter lag ein Hof.
    Kunga vermutete, dass er unbewacht war.
    »Den Abstieg können wir dem Abt nicht zumuten«, meinte Basang, der sich mit sechzig noch gerade wie ein Stock hielt. »Wir müssen ihn auf dem Rücken tragen. Aber wer spürt schon das Gewicht seiner Knochen?«
    Kunga, selbst schon ergraut, murmelte zustimmend:
    »Ja, ja, er wiegt nicht mehr als ein Vogel…«
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    Daraufhin lachten alle, leise und gerührt.
    Beim letzten Tageslicht verzehrten wir Fladenbrot und etwas Trockenfleisch, um bei Kräften zu bleiben. Wir tranken nicht, wir soffen. Dann fiel die Nacht herab wie ein Tuch. Alle Schatten wurden finster, so auch der Berghang, pechschwarz. Wir begannen den Aufstieg, beide Gruppen auf verschiedenen Wegen. »Geh an mir vorbei und folge Chokra«, sagte Atan zu mir. »Ich komme hinter dir.«
    Wir kletterten langsam und vorsichtig, tasteten uns mit Händen und Füßen vorwärts. Mehrmals hielten wir irgendwo an, um das Gelände gründlich zu erforschen. Die Abendkühle wollte nicht kommen. Die umliegenden Felsen hatten zu viel Sonnenwärme gespeichert.
    »Kannst du sehen?«, fragte ich Atan.
    »Ja, doch. Die Steine sind hell.«
    Die ersten Sterne glühten, und in ihrem blaufahlen Licht schienen die kristallartigen Felsen einen eigenen schwachen Schimmer auszustrahlen. Ich prägte mir die Stellen ein, an denen sich Chokra festgehalten oder abgestützt hatte. Es war ein Hinaufsteigen wie auf einer Leiter, die steil unter uns in die Tiefe abfiel. Zwischen den Steinen lag ziemlich viel Unrat herum; die Pilger machten sich selten die Mühe, ihre Abfälle wegzuräumen, und der Wind blies sie über die

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