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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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ganz genau. Aber meine Amla ist böse über all das hier. Sie ärgert sich wirklich. Du musst noch mehr tun, sagt sie zu mir ein ums andere Mal. Sonst schaffen wir es nicht.«
    Ich verlor allmählich die Geduld.
    »Kunsang, du redest wie in einem schlechten Film. Du kannst die Welt nicht ändern.«
    »Doch. Ein Lied ist wie eine warme Quelle, die Krankheiten heilt. Das jedenfalls sagt Yuthok.«
    Ich lächelte, obwohl mir nicht der Sinn danach stand.
    »Du, das stimmt eigentlich.«
    Sie lächelte nicht.
    »Ich bin kein Kind mehr, glaube das bloß nicht.«
    »Das habe ich auch nicht gesagt.«
    Sie hatte die Hände mit den Handflächen nach oben auf die Knie gelegt, ihre schmalen Finger waren leicht gekrümmt. »Wir haben etwas im Kopf, das wir Erinnerung nennen. Das geht nie weg und kommt wieder, wenn ich singe. Klingt vielleicht bescheuert, aber das ist fast etwas… etwas Heiliges, verstehst du?«
    Sie blickte mich an. Ich nickte. »Ich… ich erinnere mich ganz deutlich. Ich habe tausend Augen im Kopf. Ich sehe die vielen Leute, als sie noch lebten. All die Klöster, wie sie vorher waren. Und die Tiere, und die Wälder. Jeder gefällte Baum lässt einen Abdruck in der Luft, der leuchtet wie eine Buddhafigur. Jetzt sind fast keine Wälder mehr da, und im Frühjahr fließen die Hügel weg und begraben ganze Dörfer. Hast du das mal miterlebt? Nein? Aber ich!«
    Ich starrte sie ungläubig an. Sie machte eine ungeduldige Handbewegung.
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    »Hörst du eigentlich zu?«
    »Mit beiden Ohren«, seufzte ich.
    Sie schnalzte ärgerlich mit der Zunge.
    »Also?«
    Ich holte tief Luft.
    »Manchmal bist du hundert Jahre alt.«
    Sie nickte lebhaft, mit jenem seltsamen Lächeln, das nur ein Verziehen des Mundes war.
    »Ich denke zuviel. Leute, die zuviel denken, sind oft dumm.
    Glaubst du, dass ich dumm bin?«
    »Nein.«
    »Ich werde nie aufhören zu singen, auch wenn ich dumm bin.«
    Mein Gaumen wurde trocken.
    »Du solltest lieber vorsichtig sein.«
    Sie riss einen langen Grashalm aus und kaute darauf.
    »Ich bin noch jung, aber Yuthok sagt, das macht nichts. Wenn ich singe, dann ist es das Schönste auf der Welt! Vorher, ganz am Anfang, da hat es weh getan. Hier drinnen im Hals, meine ich.
    Inzwischen weiß ich, wie ich atmen muss. Yuthok hat es mir beigebracht. Sie ist nie zufrieden. Wenn ich etwas gut gemacht habe, dann sagt sie: Du musst es besser machen. Du merkst es doch selbst, sagt sie, du hörst besser als andere Leute. Ja, das stimmt. Es ist wie mit dem Gras.«
    »Mit dem Gras?«
    Sie lachte ihr kurzes, kleines Lachen. So viele Dinge gehen in ihr vor, dachte ich. Dinge, von denen ich keine Ahnung habe.
    »Ich höre die Wurzeln wachsen. Ich kann hören, wie sie sich durch die Erde zwängen.«
    »Und wie hört sich das an?«
    Sie berührte einen Halm, fuhr mit dem Finger daran herauf und herunter, beugte den Kopf und lauschte. Dann hob sie die Augen.
    »Es knackt so ein bisschen, das ist alles. Die Erde verrät nie ein Geheimnis. Deswegen schreibe ich meine Träume auf und vergrabe sie. In der Erde findet sie keiner.«
    Ich sagte, fast ohne es zu wollen:
    »In unserem Garten auch, entsinnst du dich?«
    Ihre schmalen Augen blitzten.
    »Woher weißt du das?«
    »Du hattest eine Geisterfalle an dem Baum befestigt.«
    Sie bewegte sich nicht. Ihr Gesicht war starr.
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    »Du warst weg«, sagte ich, »und wir waren beunruhigt. Bist du mir böse?«
    Sie wiegte den Kopf hin und her. Ich dachte, sie würde keine Antwort geben, wie früher. Doch sie sagte völlig ruhig:
    »Alles, was schief gehen konnte, ging schief. Ich… ich hatte einen Klumpen im Bauch. Wie ein Tennisball. Der wuchs und wuchs und drückte gegen meinen Magen, so dass ich nichts mehr essen konnte. Und dann gegen meine Lungen. Ich konnte nicht mehr atmen, nicht mehr sprechen. Ich wurde davon ganz schwindlig. Ich konnte nur noch schreiben. Ich schrieb alles, was mir durch den Kopf ging, in ein Heft, bis keine Seite mehr frei war. Und dann, mitten in der Nacht, ging ich mit dem Heft in den Garten. Es hatte geregnet, der Boden war weich. Der Garten war völlig still, wie jemand, der den Atem anhält, um plötzlich laut zu lachen – kannst du dir das vorstellen? Ich holte einen Spaten, grub ein Loch unter der Birke und versteckte das Tagebuch zwischen den Wurzeln. Dann befestigte ich die Geisterfalle, damit sie das Heft beschützte. Es wurde Tag, und Katzen rumorten in den Büschen. Ich liebe Katzen; ich dachte, das ist gut, dass sie zuschauen. Als ich fertig war,

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