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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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schloss ich die Augen und wünschte mir was.«
    Sie schwieg, und ihr Blick ging ins Leere. Ihr schwarzes Haar, viel schwärzer als meines, schimmerte bläulich. Ich fragte vorsichtig.
    »Was hast du dir gewünscht, Kunsang?«
    Sie schüttelte den Kopf und lächelte in Gedanken, fast ohne das Gesicht zu verziehen.
    »Nein, das sage ich nicht!«
    Ich nickte und fragte nicht weiter. Gegen Kunsangs Schweigen war ich nie angekommen. Niemals zuvor hatte sie so offen und vertraut mit mir gesprochen. Plötzlich warf sie ihr langes Haar aus der Stirn.
    »Warum bist du eigentlich gekommen? Doch nicht meinetwegen? Dir bin ich doch egal, oder?«
    »Nein«, sagte ich sanft, »du bist mir überhaupt nicht egal.«
    Ihr Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen. Nach einer längeren Pause fragte sie langsam:
    »Zu Hause… geht es allen gut?«
    »Allen, ja.«
    »Mola… hat sie noch Rückenschmerzen?«
    »Nur wenn es regnet. Sie kann das feuchte Wetter nicht vertragen.«
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    »Ja, ich weiß. Und Lhamo? Und Tenzin?«
    »Jeder macht seine Sachen. Aber bei Schwierigkeiten sind wir immer da, um einander zu helfen.«
    »Dann glaubst du also, dass ich Schwierigkeiten habe?«
    Was sie wirklich erlebt hat, dachte ich, werde ich niemals erfahren. Da spielen zu viele Ereignisse mit, zu viele Menschen.
    »Es hätte ja immerhin sein können.«
    »Ich habe dir doch geschrieben, dass es mir gut geht.«
    »Trotzdem, wir machten uns Sorgen. Alle. Nicht nur ich.«
    Sie lehnte sich zurück, auf den Ellbogen gestützt; das schwarze Haar wehte um ihr dunkles Gesicht. Sie war in diesem Augenblick unsagbar schön.
    »Die Schauspieler sagen, bevor sie bekannt werden, können sie ihre Maske abnehmen und kommen und gehen, wie sie wollen. Kein Mensch kennt ihr Gesicht. Mich kennt man jetzt. Da!«
    Sie blickte über meine Schulter hinweg. Ich drehte mich um und sah Longsela. Das kleine Mädchen saß ganz ruhig, ein paar Schritte von uns entfernt, und hielt die Hände ineinander verschränkt in ihrem Schoß. Als wir sie bemerkten, lächelte sie verschmitzt, ohne ihre Haltung zu verändern. Ich lächelte zurück.
    »Sie heißt Longsela. Und sie ist schon eine gute Sängerin.«
    Kunsang betrachtete sie; es lag eine merkwürdige Sympathie in ihrem Blick. Sie streckte die Hand aus.
    »Komm zu mir!«
    Longsela stand auf, kam ein paar Schritte näher und setzte sich wieder. Sie schien durchaus nicht aufgeregt zu sein, sondern unbefangen und heiter, wie das so ihre Art war. Und Kunsang – ich konnte es kaum glauben – fasste augenblicklich Zuneigung zu ihr.
    »Haben dir meine Lieder gefallen?«
    Longsela sah sie an, eindringlich, aber vollkommen ungezwungen.
    »Eines Tages werde ich auch singen«, sagte sie höflich. »Aber nicht so gut wie du.«
    Ich schaute Kunsang ins Gesicht und erblickte darin keinen Unmut, nichts, außer vielleicht einen winzigen Funken Selbstzufriedenheit, ein kaum wahrnehmbares Vergnügen, so dass ich mich nicht traute, es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
    Longselas Antwort hatte sie nicht im geringsten überrascht.
    »Eines Tages wirst du singen – und besser als ich.«
    »Wirst du es mir beibringen?«
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    Kunsang nickte ernst. »Deswegen bin ich ja hier.«
    Sie sagte das, obgleich sie doch wusste, dass sie bald wieder abreiste. Und Longsela, die das doch ebenso wissen mochte, sagte nicht, das ist nicht wahr. Sie sagte auch nicht, ach, das glaube ich nicht. Immer noch hielt sie ihre kleinen Hände ganz locker verschränkt im Schoß. Ihre Haltung zeugte von unerschütterlichem Selbstvertrauen.
    »Ja, das weiß ich schon«, gab sie ruhig zur Antwort.
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31. Kapitel

    I m Lager, stellte ich fest, bestand die wichtigste Beschäftigung in der endlosen, sorgfältigen Zubereitung von Mahlzeiten. Es muss schon immer so gewesen sein, dachte ich. Die Khampas blieben Nomaden; das brutzelnde Mahl war für sie das Wichtigste auf der Welt. Sie hatten Krieg und Verbannung, Hungersnot und Elend gekannt. Jetzt waren bessere Zeiten gekommen, das Leben war wieder lebenswert. Aber Entbehrungen und Not hatten sich tief in ihrer Erinnerung eingeprägt. Eine Mahlzeit zu kochen hieß, fähig zu sein, in einer bedrohlichen Welt zu überleben.
    Kunsang und die Schauspieler waren fort; sie würden sich noch eine Zeitlang in der Umgebung aufhalten, auch in kleineren Orten auftreten, wo die Bewohner sie nicht mit Geld, sondern mit Getreide und Joghurt entlohnten. Sie waren mit zwei altersschwachen Kleinbussen unterwegs. Kunsang hatte mir gesagt, dass sie

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