Die Tochter der Tibeterin
Plötzlich hörte ich draußen schnelle Schritte; die Tür flog auf. Deki brach in einem Staubwirbel herein, schloss mit lautem Krach die Tür hinter sich. Aus dem Gewirr von Schritten und Schreien draußen vernahm ich nur die beiden Wörter:
»Sie kommen!«
Dekis Gesicht war klebrig vor staubigem Schweiß. Heftige Atemzüge hoben und senkten ihre Brust, während sie keuchend weitersprach:
»Sherab Rimpoche lebt nicht mehr! Die Nachricht ist unbedingt zuverlässig.«
Dolma holte tief Luft; ein krampfhaftes Zittern hatte sie befallen, ein Zittern, das sie nur mit gewaltsamer Anstrengung unterdrückte.
Ihre Augen leuchteten übergroß, von metallischem Glanz, wie in einer Halluzination.
»Also doch. Sie haben ihn getötet. Das war ja zu erwarten.«
Deki nickte heftig, würgte die Worte hervor. Die Beamten sprachen der Bevölkerung ihr Bedauern aus, leugneten jede Schuld.
Sherab Rimpoche war ein kranker Mann; einen Invaliden zu misshandeln gereichte der Partei nicht zu Ehre. Er hatte sich während der Fahrt den Kopf angeschlagen und verletzt…
»Aber das stimmt nicht«, sagte Deki, trotzig und zermürbt. »Sie haben ihm den Schädel eingeschlagen. Das Blut war aus seinem Kopf auf die Steine gespritzt. Die Mönche haben mir die Flecken gezeigt.«
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Die Chinesen leugneten natürlich alles. In der Polizeistation habe man dem Abt einen Stuhl angeboten, ein Waschbecken mit lauwarmem Wasser, einen Schwamm und Verbandszeug gebracht.
Die Beamten hatten ihm schonend ein paar Fragen gestellt, als er plötzlich zusammenbrach. Der eilig herbeigerufene Arzt konnte nur noch den Tod feststellen.
Deki knetete ihre dunklen, kleinen Hände.
»Die Heiligen Lamas baten darum, dem Leichnam die letzten Ehren zu erweisen. Die Chinesen weigerten sich, den Körper herauszugeben. Sie haben ihn auf einem Handkarren weggeschafft…
und irgendwo verscharrt.«
Aus irgendeinem Grund wurde es draußen plötzlich still, doch nur für ein paar Sekunden. Und in dieser Stille hinein sagte Dolma mit dumpfer, gleichsam aus der Ferne klingenden Stimme:
»Ich verstehe. Und was wurde aus den Mitgefangenen?«
Deki strich ihr staubiges Haar aus der Stirn.
»Man bringt sie weg. Die Chinesen befürchten, dass die Nomaden die Polizeistation stürmen.« Deki hatte ein offenes Ohr für Gerüchte. Wegen kritischer Äußerungen über das Mutterland und das Lesen verleumderischer Bücher sollten die Novizen ihre
»ideologische Erziehung verbessern« und ihr »Denken vereinheitlichen«.
»Und die Taring-Brüder?«
Ja, mit den Brüdern stand es schlecht. Auf irgendeine Weise hatte das »Amt für öffentliche Sicherheit« herausbekommen, dass sie als Schlüsselfiguren hinter der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung gestanden hatten. Die Strafe sollte exemplarisch sein. Dekis raue Kinderstimme sank zu einem Flüstern herab; dabei sprach sie absolut sachlich.
»Sie wurden die ganze Nacht verhört. Die Chinesen wollten wissen, wer zu ihrer Khelenpa gehörte.
Man hat Basang etwas in den Rücken gespritzt, jetzt lebt er nur noch zur Hälfte. Kunga wurde mit einer Schnur um die Brust aufgehängt. Sie haben Streichhölzer unter ihn gehalten. Er hat nichts preisgegeben. Es heißt, man überführt sie ins Drapchi-Gefängnis.«
Ich stand wie erstarrt. Draußen hatte der Lärm wieder eingesetzt; das Dröhnen und Hämmern erreichte mich von weit her. Auch Dekis Worte trafen mich nicht direkt, sondern gedämpft, als läge zwischen Verstand und Wahrnehmung eine Schutzschicht.
Dolma neigte den Kopf.
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»Es gibt ein Lied darüber«, sagte sie ruhevoll. Sie summte es leise vor sich hin, und es klang, unterstrichen von dem Hämmern und Dröhnen, merkwürdig dünn und eindringlich:
»Ich blicke aus dem Drapchi-Gefängnis, Und sehe nur den Himmel.
Die Wolken die dort ziehen.
Ich wollte, ich war’ ihr Kind…«
Ein Frösteln überlief mich. Die Luft dröhnte und zitterte, das vielstimmige Geschrei nahm zu. Ich verspürte das Verlangen, mich an die Mauer zu lehnen und zu weinen; eine von vielen Tausenden, deren Herzen vor erstickten Tränen nicht sprechen konnten. Welche stärkende Hoffnung konnte ich hier finden? Atan! Ich musste zu ihm, jetzt sofort. In der vorigen Nacht… Ich konnte mich nicht mehr entsinnen, welche beunruhigenden Sinnlosigkeiten er geäußert hatte.
Und obschon ich mir bewusst war, wie töricht und gefährlich es sein mochte, mich unter die Aufständischen zu mischen, konnte ich nicht anders. Egal was geschah, ich musste bei Atan
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