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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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worden. Sie blickten still in die Menge hinter den Stacheldrähten. Die Taring-Brüder erkannte ich fast nicht wieder; keiner erkannte sie auf den ersten Blick. Man hatte ihnen das lange Haar geschoren, ihre Köpfe waren dunkel von verkrustetem Blut, ihre Gesichter geschwollen und entstellt. Basang war bewusstlos; damit ihn alle sehen konnten, hielten ihn Drahtschlingen aufrecht. Sein Kopf hing wie abgeknickt auf seiner Brust, rollte im Rhythmus der Wagenstöße hin und her, man sah das Weiße seiner Augen. Kunga fehlten etliche Zähne. Aus seinem Mund tropfte Blut.
    Sein graues Hemd, nass und dunkelrot, klebte an seinem Körper.
    Nicht die Angst, nur die Erschütterungen der Räder ließen seine zerschundenen Muskeln beben. Er starrte vor sich hin, schien nichts und niemanden zu sehen. Die Soldaten, die beide bewachten, saßen stumm und gegen die Menge gewandt, mit der Waffe zwischen den Knien. Der Wagenzug zog sich wie eine lange, fahle Raupe durch die Straße; die Chinesen fuhren sehr langsam, nicht einmal mit zwanzig Stundenkilometern. Eine intensiv schwingende Spannung lag in der Luft, einer Bogensehne ähnlich, die unter der leisen Berührung des Fingers ihre Härte zeigt. Viele Menschen schluchzten vor Ergriffenheit, andere hoben die gefalteten Hände im Gebet.
    Nomaden, in Scharen gekommen, schüttelten ihre Fäuste, schleuderten dem Militär Schmähungen entgegen. Die Bänder in ihren Haaren glühten feuerrot. Die Häftlinge hörten nichts, sahen nichts; sie fuhren vorbei, wie erstarrt in einem wunderlichen Traum.
    Und da – auf einmal – fegte der Wind ein anderes, merkwürdiges 333
    Geräusch heran. Ein Gesang übertönte das Brummen der Motoren, das Knirschen der Räder. Der Gesang erzeugte ein machtvolles, rhythmisches Dröhnen, das ich in dem Boden unter meinen Füßen spürte. Die Chinesen taten, als hätten sie nichts gehört; aber die Menschen blickten nun in die Richtung, aus der die Stimmen sich näherten. Der Gesang wurde deutlicher. Eingehüllt in flimmernde Hitzeschleier traten Mönche und Nonnen den Fahrzeugen entgegen, versperrten ihnen den Weg. Es mussten an die hundert sein. Ein Leuchten ging von ihnen aus, daran war kein Zweifel. Sie kamen auf nackten Füßen, allen sichtbar, Staub und Sand in den wallenden Roben. Eine merkwürdige Leichtigkeit trug ihre Schritte: die Leichtigkeit jener, die sich opfern, weil sie nichts zu verlieren haben.
    Die Sonne brannte auf ihren Gesichtern, machte ihren Schmerz, ihren Glauben noch deutlicher sichtbar. Der Wind trug den Gesang empor; lauter als alle politischen Schlagworte sollte ihre Stimmen brausen. Weder rechthaberische Ideologen noch Folterknechte konnten ihren Glauben vertreiben; ihr inneres Feuer brannte nicht aus.
    Die Reihe der Fahrzeuge bewegte sich langsamer. Die Bremslichter blinkten; die Fahrer sahen in den Rückspiegel. Der erste Wagen hielt an; auch der zweite, der keine zwanzig Meter entfernt folgte. Soldaten liefen den Zug entlang, brüllten jedem Fahrer zu: »Näher aneinander! Beschleunigen!« Doch die Fahrer zögerten. Nach und nach kam die Kolonne ins Stocken. Und als ob er nur auf diesen Augenblick gewartet hätte, hob ein junger Mönch, an der Spitze des Zuges, eine große Flagge in die Höhe; er hatte sie an einem Stock befestigt. Die Flagge der tibetischen Unabhängigkeit! Sie war sorgfältig hergestellt worden, mit goldfarbenen Fransen bestickt und in liebevoller Kleinarbeit mit Brokat eingerahmt. Mönche und Nonnen mussten viele Stunden damit verbracht haben. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie farbenfrisch sie war. Sie zeigte das Weiß der Berge, das Blau des Himmels, die aufgehende Sonne mit ihren glutroten Strahlen, die Glaubensflamme und die Schneelöwen, Sinnbilder der freien Natur. Ich stand zu weit entfernt, um den Wappenspruch zu lesen, aber ich kannte ihn auswendig und sprach ihn mit leiser Stimme, wie ein Gebet: »Herz der Gletscher, Quelle der Ströme, Raum der Weite, Ort der Reinheit…«
    Ein gedehnter Laut stieg aus der Menge auf; er glich einem stöhnenden Atemholen. Der junge Mönch, der die Flagge trug, hielt 334
    den Kopf erhoben, die Augen auf die Fahrzeuge gerichtet. Die Menschen brachen in Schluchzen aus, schrien und klagten. Bilder vom Dalai Lama, wie durch ein Wunder hervorgezaubert, wurden hochgehalten. Der Flaggenträger kam näher – sein Gesicht kam mir merkwürdig vertraut vor. Und plötzlich erkannte ich ihn: Dorje! Ja, es war Dorje, der junge Mönch, der mich mit dem Motorrad in das Haus seiner

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