Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
ohne Staunen, wobei er den Rauch durch die Nase stieß.
    »Ein gelber Sturm, Deki, was?«
    »Ein Sturm der Götter«, flüsterte Deki, bevor sie lautlos den Raum verließ.
    »Ich habe gedacht, dass es sich ändern würde. Aber nein, niemals«, sagte Atan in dieser Nacht zu mir. »Der Schlaf ist jetzt immer wie ein Grab. Mit so viel Sehnsucht nach dem Nichts. Was hat mich so müde gemacht?«
    Ich lag neben ihm und ließ ihn reden. Im Helldunkel sah ich seine Augen: warmes Obsidian, aus denen so viel Feuer zu mir geflossen war, gutes Feuer.
    »Wir haben unser Bestes getan«, sagte Atan.
    324
    Als Ärztin erlebte ich es manchmal bei Patienten, dass sie reden und reden und dann verlöschen wie ausgebrannte Glut. Er sprach jetzt im gleichen Tonfall, was mir Angst machte.
    »Sieh dir mein Gesicht an. Es ist wie eine Landkarte Tibets.
    Berge, Täler, Wüsten, Ebenen sind in meine Haut gezeichnet. All unsere Gesichter, so unterschiedlich sie auch sein mögen, tragen diese Merkmale: Einwanderungen, Siege, Eroberungen, Niederlagen.
    Wir opfern unser Blut oder werden besiegt. Das ist ein Los, das uns alle treffen kann. Es kommt nur darauf an, ob wir unsere Pflicht getan haben oder nicht. Die Taring-Brüder gehörten zu jener Khelenpa, die Seine Heiligkeit damals über die Pässe ins indische Exil geleitet haben. Hast du das gewusst, Tara? Habe ich es dir nicht gesagt?«
    Ich verneinte wortlos, lag neben ihm, die Arme um ihn geschlungen und mein Gesicht an seine Schulter gedrückt; uns umgab eine eindrucksvolle Stille, ungewöhnlich für eine Stadt, die den Lärm der Stimmen und der Schritte auf dem Gehsteig, das Dröhnen der Motoren gewohnt ist.
    »Wir sprachen davon seit Urzeiten. Jedes Mal, wenn wir sternhagelvoll waren, meine ich. Das waren wir ziemlich oft. Unsere Herzen klopften dann schnell und dumpf, wie Festtrommeln, die den Sieg verkünden.«
    »Du denkst zuviel nach«, sagte ich. »Das ist ungesund.«
    »Ich denke an den Tod.«
    »Hier ist kein Whisky im Haus. Dolma trinkt nicht.«
    »Macht nichts. Wir alle denken an den Tod. Ehrenvoll soll er sein; keiner will wie ein überanstrengtes Pferd krepieren, verkrüppelt und angekettet in irgendeinem Arbeitslager. Unter den Kugeln der Chinesen zu sterben ist unter allen Umständen ruhmreicher. Wir siegen über die, die uns besiegt haben, und schaffen Träume für unsere Kinder…«
    Ich schwieg; dabei ergriff mich ein ungeahntes Vorgefühl, als ob er von einer Krankheit sprach und die Symptome bei sich selbst zu entdecken meinte. Da erwachte mein Widerspruchsgeist, und ich sagte:
    »Hör auf, Atan. Wer sagt dir, dass sie nicht morgen schon freikommen?«
    Doch er schien meine Worte nicht gehört zu haben.
    »Was ist eine Schusswunde? Nur eine kleine Öffnung, aus der unser Leben hervorbricht und uns für immer verlässt. Macht dir das 325
    Angst?«
    »Unsere Religion ist dagegen«, antwortete ich gereizt.
    »Es ist unnütz, sich zu zwingen, das Gegenteil zu glauben. Aber wozu haben die Götter Mitgefühl? Wir sterben mit einer Maske auf dem Gesicht; sie sollte zumindest nach unserem Geschmack sein.«
    Seine Hände waren kalt; ich nahm sie zwischen die meinen und wartete darauf, dass sich ein bisschen Wärme auf sie übertrug.
    »Du hörst dich an wie ein schlechter Film. Tu was dagegen!«
    »Ich sage dir: Sherab Rimpoche wird morgen umgebracht. Ein bedauerlicher Unfall. Ein Herzversagen.«
    »Komm, du hast genug gedacht. Schlaf jetzt.«
    »Ich kann nicht schlafen.«
    »Doch, du kannst.«
    Er legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Ich beobachtete ihn, hörte zu, wie er atmete. Es war spät in der Nacht geworden; ich jedoch fand lange keinen Schlaf. Ich spürte Atans Gegenwart, fühlte mich zu Hause bei ihm, bei meinem Volk. Atan war mir ganz und gar geschenkt, weil ich es hingenommen hatte, ihn nicht ganz zu verstehen; er lebte nach eigenen Maßstäben, die sich schwer abschätzen ließen. Ganz egal, wie nah ich an sein Herz auch immer herankam, ich musste ihm eine innere Welt zubilligen, mit mir nicht geteilten Gefühlen. Ich fasste unter die Decke, berührte seine Schenkel, seinen Bauch. Auch das war Liebe, das Gefühl, dass es Tage gab, an denen jeder, der Stärkste wie der Schwächste, Trost brauchte; dass der Mensch sowohl Schutz gewähren als auch Schutz empfangen, sorgen und umsorgt werden wollte.
    Ich hielt die Augen offen; sie waren an die Dunkelheit gewöhnt, ich konnte die Umrisse des Zimmers erkennen. Durch das schmale Fenster schienen die Sterne. Ich

Weitere Kostenlose Bücher