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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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kranken Mutter gebracht hatte und dann zum Lager der Nomaden aufgebrochen war, um Atan zu holen. In diesen Sekunden der Verwirrung hatte ich die Gefangenen aus den Augen gelassen, doch nun spielte sich alles mit betäubender Schnelligkeit ab. Ein Schrei stieg aus allen Kehlen, schwoll an, kreiste über dem Platz. Ein lautes, entsetztes, unablässiges Schreien. Alle Augen richteten sich auf den Lastwagen, auf Kunga Taring, der sich wie durch ein Wunder von seinen Fesseln befreit hatte. Ein Soldat riss seine Maschinenpistole hoch, aber Kunga wehrte die Mündung mit einem Faustschlag ab, wich dann schnell wie eine Katze einem Gewehrkolben aus, der von der anderen Seite angeschwirrt kam. Für einen Atemzug, nicht länger, hielt er die Umzingler mit einem hasserfüllten Blick im Zaum, dann war er schon über die Wagenpritsche herabgesprungen. Strauchelnd landete er auf dem Boden, raffte sich auf, lief mit hochgezogenen Schultern unglaublich schnell auf Dorje zu. Er griff mit beiden Händen nach ihm; es sah aus, als ob er ihn umarmen wollte. Stattdessen entriss er ihm die tibetische Fahne. Mit letzter Kraft stieß er den Jungen weit von sich, hob die Flagge hoch über seinen Kopf.
    »Lha Gyalol« – Die Götter werden siegen! – Kungas Ruf erstarb in einem blutigen Erbrechen, im einsetzenden Prasseln der Maschinenpistolen, die in langen waagrechten Linien schossen. Eine Kugel zerschmetterte ihm die Stirn, während das frische Blut aus jeder Schusswunde – es mussten mehr als ein Dutzend sein –
    spritzte. Ein paar Sekunden lang stand Kunga Taring noch hoch aufgerichtet, hielt die Flagge dem Himmel entgegen, als ob sein ausströmendes Leben eine letzte, nahezu übermenschliche Kraft in ihm weckte. Dann taumelte er, die Flagge entglitt seinen Händen.
    Ein Schauer rann durch seinen Körper, langsam sank er in die Knie.
    Er fiel nach vorn, rollte herum und blieb still auf dem Pflaster, das sich rot färbte, liegen.
    Einen Atemzug lang entstand in dem ganzen Getöse eine Art Leere. Es war, als ob alles – der Wind, die Steine, die Menschen –
    den Atem anhielten. Dann brach der Tumult los. Aus der Menge 335
    wurde ein wildes, unübersichtliches Chaos. Die Soldaten hoben die Schilde zum Schutz gegen die Steine, welche die Tibeter nun schleuderten. Schon griffen die Nomaden die Fahrzeuge an, zerrten die Fahrer heraus, rissen sie zu Boden, schlugen sie mit Stöcken.
    Man sah die Straße nicht mehr, sondern nur ein wimmelndes Menschenknäuel und dichten Sandstaub, der alle Fahrzeuge überschwemmte. Wieder sprühten die Maschinengewehre ihr Feuer, hielten einen Augenblick an, während die Luft den herben Geschmack von verbranntem Pulver, Staub und Tränengas behielt.
    Die erstickenden Schwaden wehten über den Platz, reizten die Kehle, drangen in die Luftröhre, brannten und schmerzten wie verrückt. Alle keuchten, husteten sich fast die Lungen aus dem Leib.
    Wieder krachte eine Salve, dann folge ein wildes Einzelfeuer. Die Schützen waren geübt, die Maschinengewehre, keine fünfzig Meter entfernt, sehr genau. Man konnte ihr Pfeifen unterscheiden, sie schienen einander abzulösen, abwechselnd die rechte, dann die linke Straßenseite zu beschießen. Die vorbeiheulenden Kugeln kamen immer tiefer, spritzten den Asphalt auf. Menschen rannten auseinander, stolperten über Kisten und umgekippte Fahrräder, suchten in Hauseingängen Schutz. Der Lärm war entsetzlich. Die grüne Masse der Soldaten bewegte sich immer weiter nach vorne.
    Wie ein Sturm umbrandete Geheul den Platz. Verletzte wälzten sich in ihrem Blut. Eine Frau rannte kreischend an mir vorbei. Ich sah Dorje, der sein Bein nachschleppte und von zwei Mönchen weggezerrt wurde. Er blutete stark. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge und lief ihnen nach, als zwei Hände mich packten, mich zu Boden rissen. Ich spürte den heftigen Aufprall, aber nicht den geringsten Schmerz, denn im gleichen Atemzug sah ich, wie eine verzerrte Maske aus verkrustetem Staub, Schweiß und Blut, Atans Gesicht dicht neben dem meinen. Seine Arme schlangen sich um mich, seine Brust drängte sich an meine, keuchte und pochte mit meinem heftig schlagenden Herzen. Einen Augenblick lagen wir stumm, bebend, nach Atem ringend. Endlich fand ich meine Sprache wieder.
    »Wo kommst du her?«
    Er kauerte wachsam neben mir, den Kopf auf eine Seite gelegt wie ein lauschender Wachhund.
    »Aus der Hölle!«
    »Bist du verletzt?«
    »Nicht schlimm.« Atans Stimme jagte plötzlich. »Wirf dich hin!«
    336
    Er

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