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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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sein. Ich schnallte meinen Rucksack um, schlüpfte hastig und wortlos in meine Turnschuhe. Dolma war schon auf den Beinen und rief mit bebender Stimme:
    »Tara! Wohin gehst du?«
    »Ich muss Atan finden.«
    »Auch wenn du dich damit in Lebensgefahr bringst?«
    »Es spielt keine Rolle.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich bin Ärztin.«
    Die Antwort schien Dolma zu verstören. Ich merkte es an ihrem flackernden Blick.
    »Bist du wirklich Ärztin?«
    »Ja. Man könnte mich brauchen. Ich habe Medikamente bei mir.«
    Dolma hatte ihre Ruhe wiedergefunden, die keine Gleichgültigkeit war, sondern die Ruhe derer, die schon zuviel erlebt haben, um nutzlose Ratschläge und Klagen zu vergeuden.
    »Tu, was du willst. Aber lass dich warnen: Die Polizei macht Gefangene. Und es kommt vor, dass Scharfschützen in die Menge zielen.«
    Nass geschwitzt, mit staubgefüllten Nasenlöchern und Ohren, lief ich durch die Straßen. Es gab viele Frauen und Männer, die schneller 331
    liefen als ich. Sie riefen einander zu, schwangen Stöcke, hämmerten auf Eimern und Pfannen. Ich lief mit der Menge, wurde von schnelleren Füßen überholt. Kleine Gruppen formierten sich. Viele Tibeter hatten sich Tücher um den Kopf gewickelt oder Wollmützen tief in die Stirn gezogen. Sie wussten, dass die Sicherheitsbeamten hier filmen würden. Die chinesischen Einwohner Lithangs suchten im Innern der Häuser Schutz, brachten Autos und Fahrräder in Sicherheit. Sie hatten Imbissstuben und Restaurants geschlossen, alle Läden dicht gemacht, die Schaufenster mit Sandsäcken und Brettern geschützt. Staubwolken fegten in Schwaden heran, glitten über den Asphalt. Die Sonne schwebte im Dunst, fern und rot wie eine blutende Kugel. Immer stärker wurde der Lärm, ohrenbetäubend, während gleichzeitig Drohungen und Befehle aus sämtlichen Lautsprechern kreischten. Das Getümmel war beängstigend; wie sollte ich Atan bloß in der aufgewühlten Menge finden? Bisher war ich in alldem Wirrwarr ruhig geblieben, doch mit einem Mal spürte ich das Fieber all dieser Menschen auch auf mich übergreifen. Ja, wir alle hatten es satt, von aufgeblasenen Popanzen beherrscht zu werden, die unser Land plünderten und entstellten, unser tägliches Leben genau und streng vorschrieben, vom Augenblick des Erwachens an und für jede Tagesstunde. Zur Hölle mit dieser Großmacht, die alles zertrampelte, was ihr in den Weg kam. Seit einem halben Jahrhundert erlebten wir Brutalität und Verschlagenheit, sahen wir, wie die erdverwurzelte, die unzerstörbare Kraft unseres Volkes in einem Sumpf von Gewalt zu ersticken drohte. Und wenn es mich auch schüttelte vor Angst, ich gehörte hierher. Ich konnte nicht aus meiner Haut. Ich liebte das tibetische Volk mit allen Schmerzen, wie Atan und Kunsang es liebten. Oh, ich verstand wohl, in welcher ausweglosen Lage es sich befand! Ich musste mich für dieses Volk einsetzen, ihm beistehen, mit ihm kämpfen. Kein fremder Wille zwang mich dazu: Der Wille war in mir selbst. Ob ich mich dabei in Gefahr brachte oder nicht, spielte keine Rolle mehr. Immer wieder glitt mein suchender Blick über die Menschen hinweg, ohne dass ich Atan entdeckte. Immer mehr sah ich ein, dass es zu dieser Stunde und an diesem Ort wahrscheinlich unmöglich sein würde, ihn zu finden. Doch gegen jede Vernunft, gegen jeden Sinn, spähte ich beharrlich und verzweifelt nach ihm aus.
    Inzwischen umringte mich die Menge, schob mich vorwärts durch eine Seitenstraße, auf den Marktplatz zu. Dort aber konnten 332
    wir nicht weiter. Vor uns standen, hinter Stacheldraht und aufgetürmten Sandsäcken, die Soldaten in langen, dichten Reihen.
    Im Gegenlicht sah ich andere Soldaten, mit Maschinengewehren bewaffnet, auf den Dächern stehen. Ein atemloser Augenblick verging. Dann durchlief ein Beben die Menge. Ich hörte Schreie des Entsetzens, zornige Stimmen, das Dröhnen von Motoren. In geringer Entfernung rollten Militärfahrzeuge langsam vorbei. Die behelmten Soldaten saßen völlig regungslos. Der Geleitzug eskortierte den Lastwagen mit den Gefangenen der vergangenen Nacht; die Plane war zurückgeschlagen. Alle Häftlinge waren auf chinesische Art mit dünnen Stricken zu Bündeln zusammengeschnürt, wobei die Arme hinter dem Rücken verdreht wurden. Die Mönchen trugen Nummernschilder um den Hals; ihre Verbrechen – »Aktivitäten gegen Partei und Volk« – waren darunter in tibetischen Schriftzeichen aufgeführt. Ihre Robe war bereits durch den grauen Anzug der Sträflinge ersetzt

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