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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Sonnenschutz diente. Dazu ihr einziges Gut: eine Halskette aus Korallen und schwere Ohrgehänge.
    Sie gehörte zur Familie; alles war ihr anvertraut, auch das Geld für die täglichen Einkäufe. Dachte sie nach, durchzog eine tiefe Falte ihre Stirn, denn sie setzte ihren Ehrgeiz daran, stets alles gut und richtig zu machen. Und es war selbstverständlich, dass sie ihre Mahlzeiten mit ihrer Herrin einnahm und auch das Schlafgemach mit ihr teilte.
    Dolma war eine mütterliche Frau, groß und stattlich. Ihr volles Gesicht glänzte kupfern, vor allem die Stirn und die Wangen. Ihre Hände waren braun und wohlgeformt. Sie war in der tibetischen Tracht gekleidet, dazu eine Strickjacke, und trug an allen Fingern silberne Ringe mit schön polierten Türkisen. Am Anfang wusste ich nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte, doch es ergab sich von selbst. Die Begrüßung war, obwohl formell, kürzer als üblich.
    Ich erwies ihr die üblichen Ehren, doch kaum brachte Deki den 322
    Willkommenstee, als Dolma auch schon das Gespräch mit den Worten eröffnete:
    »Es gibt Gerüchte. Das Militär hat das Kloster gestürmt. Der heilige Lama und einige Mönche sollen verhaftet worden sein.«
    Atan nahm eine Zigarette, blickte Dolma fragend an. Sie nickte zerstreut, und er griff nach seinem Feuerzeug.
    »Wir haben getan, was wir konnten. Na ja, es ging schief.«
    »Schlimm, schlimm!«, murmelte sie.
    »Es kommt noch schlimmer: Die Taring-Brüder gingen in die Falle.«
    Sie schaute ihm scharf in die Augen. Ihr schönes Gesicht war hart geworden.
    »Eine Mäusefalle für Wölfe!«
    Er nickte grimmig.
    »Das Fest war zu ausgelassen. Wir waren alle laut, betrunken und träge.«
    »So doch auch nicht«, sagte ich.
    »Aber ja. Eine reichlich verdiente Pleite.«
    »Warum habt ihr es nicht geschafft?«, wollte Dolma wissen.
    Atans Bericht war knapp. Er verhehlte und beschönigte nichts.
    Während er sprach, schlich Deki lautlos herein, horchte mit angehaltenem Atem. Dolmas Gesicht war ausdruckslos; ich wusste nicht, was in ihren Gedanken vorging. Doch als Atan schwieg, erwiderte sie sofort mit verhaltenem Hohn:
    »Die Han wissen, was sie tun. Das war ihre Chance. Noch eine Verhaftung mehr, und die Nomaden werden Kommunisten. Noch eine Verhaftung mehr, und alle lernen chinesisch.«
    Atan schürzte sarkastisch die Lippen.
    »Ist das ihre Idee von einer guten Chance – einen verkrüppelten wehrlosen Mann zu verhaften?«
    »Die Ideologie hilft ihnen, sich moralisch dabei zu fühlen.«
    Dolma hielt den Rücken kerzengerade, die Hände locker im Schoß verschränkt, in der gleichen Haltung wie die kleine Longsela, kam mir in den Sinn.
    »Ich wusste, dass ihr es nicht schafft.«
    »Woher wusstest du das?«
    »Ich hörte es im Wind. Ich hörte es von den Vögeln. Außerdem war gerade ein Novize da und hat geweint.«
    »Jetzt wissen es also alle.«
    »Alle. Und Lithang duckt sich zum Sprung.«
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    »Wann, glaubst du, wird es losgehen?«
    »Sobald sie uns die Gefangenen vorführen.«
    »Warum tun sie sowas?«, warf ich verblüfft ein.
    Dolma wandte mir ihr ruhiges Gesicht zu.
    »Im Mutterland dienen öffentliche Hinrichtungen zur Belustigung und Belehrung der Massen. Das ist noch heute so. Der Brauch wurde auch bei uns eingeführt; eine praktische Gewohnheit, und tausend nie gesühnte Morde. Sie haben uns gegenüber viel Missachtung. Oft sind wir keine Kugel wert, man wirft uns einfach einen Strick um den Hals. Die Han sind heutzutage vorsichtiger geworden; es bringt zu viel Protest im Ausland. Aber sie zeigen uns die Sträflinge: Die Parteijustiz will Entsetzen in unserem Herzen wecken, die Furcht soll unseren Gehorsam erzwingen. Sie haben nie aufgehört zu glauben, dass wir ängstlich und beeinflussbar sind, dass der Schmerz uns betäubt. Aber in unseren Herzen, wie in unseren Häusern und Jurten, brennt hell und rein Buddhas Flamme. Wir haben zuviel mitgemacht und lassen und nicht mehr sonderlich beeindrucken.«
    Ich starrte sie an, nahezu hypnotisiert. Sie sprach so vernünftig, so ruhig; sie war eine Dichterin in der fast aufregenden Sachlichkeit ihrer Worte, die in einem langen Schweigen ausklangen – einem Schweigen, in dem sich jetzt plötzlich eine neue Stimme erhob, rau und seltsam kindlich in ihrer unbeholfenen Art, die Silben zu dehnen.
    »Der Sturm kommt, und er kommt bald.« Deki stand an der Tür, mit geröteten Wangen, die Hände höflich unter der Schürze verborgen. »Ich habe ihn im Wind gerochen.«
    Atan betrachtete sie

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