Die Tochter der Tibeterin
betrachtete sie gleichgültig. Sie kamen zu spät, sie waren zu fern. Ich dachte an Kunsang. Sie hatte so viele Dinge gesagt, Dinge, die in keiner Weise denen ähnelten, die ich von ihr erwartet hatte. Was hast du gesagt, Kunsang? Dass du dein Leben hier, das allerhärteste überhaupt, immer unterwegs, der Nestwärme deiner eigenen Familie vorziehst? Brauchst du denn keine Sicherheit? Offenbar nicht. In deinen Augen ist nichts als Entschlossenheit. Du willst allein sein und wirst es trotz meiner Bemühungen bleiben. Ob es mir weh tut? Es gibt keine Möglichkeit, es dir verständlich zu machen. Was wäre noch zu sagen? Kaum etwas. Und doch – ich muss Vertrauen haben.
Wo bist du, Kunsang, wo bist du in dieser Nacht? Hast du auch 326
die Vögel gehört? Den Wind? Kannst du schlafen oder liegst du wach?
Es war eine Nacht voller Beunruhigung, eine Nacht erwachender Gespenster. Sie nahmen Gestalt an, sie wurden immer lauter. Sie stöhnten in den Steinmauern des Klosters, färbten die roten Frühnebel mit dem Staub der Berge, schickten heulende Wirbel über den Beton der Hauptstraßen. Bei Tagesanbruch schmetterten die Lautsprecher Marschmusik; der Wetterbericht verhieß nichts Gutes: Die Wahrscheinlichkeit von Sandstürmen betrug sechzig Prozent.
Die muntere Sprecherin wünschte der Bevölkerung guten Morgen, mahnte alle zur Disziplin und Ruhe. Ich hatte ein paar Stunden geschlafen. Als ich aufwachte, war ich allein. Atan war fort.
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34. Kapitel
D er staubige Wind brauste über Berghänge, über Hochweiden und Gerstenfelder, zog Schleier von gelbem Flugsand über die Stadt.
Jenseits der Asphaltstraße, vor dem Klostertor, waren Mönche und Nonnen versammelt. Die Torflügel standen weit offen; es roch nach Weihrauch, Butterdampf, trockenem Staub. Immer mehr Menschen kamen herbei, drehten Gebetsmühlen, murmelten Gebete. Die chinesische Polizei sah zu und wartete, stumm und arrogant. Alle Männer waren schwer bewaffnet. Die Tibeter hatten von den Polizisten nie erwartet, dass sie sich höflich oder freundlich aufführen würden. Mönche und Nonnen nahmen ihre Kräfte zusammen, entfernten blinzelnd den Schmutz aus ihren Augen und beteten. So viele Menschen. Immer mehr Menschen. Die Soldaten standen mit gespreizten Beinen, spuckten dann und wann in den Sand. Die Tibeter sahen Windschatten über die Hügel kriechen, hörten die Warnungen aus den an den Bäumen befestigten Lautsprechern. Der Sandsturm nahm zu. Man empfahl den Bewohnern, zu Hause zu bleiben. Das Gefühl der Angst ließ sich nicht beschreiben; es war einfach da. Lastwagen mit Miliz fuhren durch die Straßen; die Soldaten trugen Stahlhelme. An manchen Stellen errichtete die Sicherheitspolizei Barrikaden. Mönche und Nonnen würden demonstrieren, hieß es. Sie waren bereit, ihr Leben zu opfern, weil sie es für wirksamer hielten, zu sterben als über Gewaltlosigkeit zu reden. Jeder Tibeter spürte das nahende Unheil.
Die Angst war so groß, dass viele Menschen weinten. Die Marktleute bauten ihre Stände ab, Händler ließen ihre Läden herunter.
»Wo ist Atan?«, fragte ich Dolma.
»Er ging bei Tagesanbruch«, erwiderte sie gelassen. »Er wollte dich nicht wecken.«
»Ich möchte wissen, wo er ist.«
»Er hat mir nichts gesagt. Sei ruhig, Tara. Ich habe Deki geschickt. Sie sieht nach, wie es draußen ist. Sie wird jeden Augenblick hier sein. Komm! Wir schließen die Tür und warten. Es ist bald vorbei.«
Ich wischte mir den Schweiß aus der Stirn. Die heiße Luft machte mich fast toll. Stimmte es, was man sagte, dass die Polizisten manchmal mit Maschinengewehren in tibetische Häuser feuerten, 328
wodurch ganze Familien ums Leben kamen? Dolma ließ sich auf der Sitzbank nieder, in einen gewebten Schal eingewickelt. Ihr ruhevolles Gesicht schimmerte im Helldunkel. Ich ging auf und ab, zerrte an meinem Zopf, überraschte mich dabei, wie ich ihn in den Mund nahm, und warf ihn wütend über die Schulter. Plötzlich begann es draußen seltsam durch die Luft zu pfeifen. Ich lief ans Fenster, sah aber nichts; draußen an den Scheiben klebte roter Staub.
»Was ist das?«
»Sie machen Lärm«, sagte Dolma.
Jetzt hörte ich es besser; die Leute schlugen auf Töpfe, Pfannen und alles Metallene, das sie nur finden konnten.
»Warum machen sie das?«
»Sie erleichtern sich auf diese Weise, wenn Gefahr droht. Die Chinesen macht das nur noch nervöser.«
Der Lärm fegte durch die Luft, kam näher; tausend unermüdliche Hände hämmerten und trommelten.
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