Die Tochter der Tibeterin
einkehrenden Stille blickte die Frau uns an, verzweifelt und voller Mitleid.
»Sie bringen die Verwundeten zum Verhör«, sagte sie leise. »Die Toten verscharrten sie in Massengräbern.«
»Ja, ich weiß«, sagte Atan.
»Das Mädchen blutet stark. Sie muss verbunden werden.«
»Ich kümmere mich darum. Ich bin Ärztin.«
»Gelobt seien die Götter!«, murmelte die Frau.
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Sie befestigte sorgfältig den Steppvorhang vor der Tür, während wir Kunsang in den karg eingerichteten Raum trugen. Wände und Fenster waren mit Zeitungspapier beklebt. Das Abzugsrohr des Ofens ragte durch eine Fensterscheibe ins Freie. In einer Vitrine sah ich im Licht der kleinen Lampe einen Metallbehälter mit silberner Frontplatte. Durch ein winziges geschnitztes Fenster erblickte ich eine Miniatur, die ich mit Herzklopfen erkannte. Sie stellte die weiße Tara dar, die Göttin der Barmherzigkeit, die wir als Erlöserin verehren und deren Namen ich trug. Solche Behälter wurden früher an Riemen befestigt und auf Reisen durch die Weiten Tibets mitgenommen. Die Miniatur war alt, die Farben waren dunkel, aber die Ausführung zeigte, dass ein großer Künstler sie gemalt hatte.
»Vorsicht, hierher«, sagte die Frau.
Die Sitzbank neben dem Ofen diente auch als Schlafgelegenheit.
Ich half Kunsang, sich hinzulegen; die Frau zog ihr die Stiefel aus.
Sie massierte Kunsangs eiskalte Füße, zog ihr warme Socken an.
Dann schlug ich ihre Tschuba zurück und untersuchte ihre Wunde.
Die Kugel war durch die Seite eingedrungen und hatte den Brustkorb unter dem Schulterblatt wieder verlassen, dabei jedoch die Rippen beschädigt. Obwohl die Kugel nicht mehr im Körper steckte, machte mir die Verletzung Angst. Kunsangs Atem rasselte, um die Lippen herum trug die klebrige Haut einen gräulich-grünen Schimmer. Sie sprach mit der Stimme eines kranken Kindes.
»Tut weh. So weh!«
Ich drückte ihre Hand.
»Gleich geht es dir besser.«
»Ich hole noch eine Decke«, sagte die Frau.
Sie hieß Chime, erzählte sie, und war schon lange Witwe. Sie war weißhaarig und so geschrumpft, dass man ihr wohl hundert Jahre geben konnte. Ihre Augen waren noch immer klar, doch es schien, als könnte ein Hauch diese Frau davonwehen. Ich bat sie um abgekochtes Wasser und gab Kunsang zu trinken. Dann machte ich ein Tuch nass, wusch ihr den Staub von Gesicht und Oberkörper; ihre Haut war so zart, ihre Brüste hatten etwas Rührendes an sich.
Die Magerkeit ließ das Kindliche ihres Körpers noch deutlicher hervortreten. Ich besah mir die frischen Schusswunden, das aufgerissene Gewebe. Nicht schön. Kunsang lag jetzt ruhiger, das kühle Wasser schien die Schmerzen etwas zu lindern. Ich desinfizierte mir gründlich die Hände und öffnete den Erste-Hilfe-Kasten, den ich im Rucksack hatte. Ich riss ein Verband- und -
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Medikamentenpäckchen auf, bereitete die Injektionsnadel für die Morphiumampulle. Kunsang biss die Zähne vor Schmerz zusammen, während ich die Glaskappe zerbrach und ihr die Kanüle in die Vene schob. Ihre Augen waren vor Schmerz und Erschöpfung glasig. Als ich fertig war, legte ich einen Augenblick lang meine Hand auf ihre klamme Stirn. Das Fieber hatte zu steigen bekommen. »Du wirst jetzt schlafen«, sagte ich. »Wenn du aufwachst, wird es dir besser gehen.«
Sie nickte, schloss die Augen. Als sie sich entspannte, legte ich ihr einen Verband mit einer blutstillenden Salbe an. Nach wenigen Augenblicken ging Kunsangs Atem gleichmäßig. Während ich mich mit ihr befasste, hatten sich Atan und die alte Frau in ein flüsterndes Gespräch vertieft. Jetzt nahm ich dankbar den Tee, den Chime mir reichte, und trank einen großen Schluck.
»Die Wunde gefällt mir nicht«, beantwortete ich ihre stumme Frage. »Das Blut ist zu hell. Und sie hat Blasen im Mund. Ich fürchte, dass eine Vene durch die Splitter der zerschmetterten Rippe beschädigt wurde.«
Atan schwieg. Ich konnte nicht in seinem Gesicht lesen. Doch er ballte die Faust, ließ sie ganz langsam auf das Knie sinken. Ich trank einen weiteren Schluck, um genau überlegen zu können. In meinem Kopf war eine so große Verwirrung.
»Da gibt es etwas, was ich dir sagen muss, Atan: Sie ist schwerer verletzt, als ich zuerst dachte. Zusammen mit dem Blut dringt Luft in die Brusthöhle. Sie muss sofort ins Krankenhaus.«
»Sie darf nicht ins Krankenhaus«, erwiderte er. »Auf keinen Fall.«
»Warum nicht, Atan?«
»Willst du unbedingt Einzelheiten wissen?«
Seine Worte erinnerten mich daran,
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