Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
drückte mich runter, schützte mich mit seinem Körper. Ich lag mit der Wange auf den Steinen, als ein ohrenbetäubender Knall den Boden erschütterte: Mit einem Ausbruch dunkelroter Flammen explodierte ein Fahrzeug. In wenigen Augenblicken war der Wagen nur mehr eine riesige Glutstelle, die Sturzbäche von schwarzem Rauch spie. Atan stützte sich auf die Ellbogen, sah nach dem brennenden Wagen, nach dem Qualm, der alle Fahrzeuge überzog.
    Er richtete sich auf, rüttelte mich an der Schulter.
    »Komm, weg von hier! Auf den Knien!«
    Wir krochen auf allen vieren weiter, die Hauswand entlang. Die Schüsse kamen von rechts, pfiffen kaum zwei Meter über unsere Köpfe hinweg, schlugen trocken an die Mauer. Der Verputz fiel wie dünner Regen auf Rücken und Nacken. Ein Geschoss stieß an ein Metallteil, prallte mit spitzem Laut ab. Ich spürte einen Schmerz an der Stirn; ein Splitter hatte mich getroffen.
    »Runter mit dir!«, keuchte Atan.
    Wir wichen, auf dem Bauch kriechend, zurück. Ich wischte mir mit dem Ellbogen das Blut aus den Augen und meinte auf einmal, ich sei wahnsinnig, denn nur einige Schritte von uns entfernt, mitten in der wimmelnden Menschenmenge, stand eine Frau ganz allein, schwenkte die tibetische Flagge, goldschimmernd und rußgeschwärzt, mit gleichmäßiger Bewegung über ihrem Kopf. Sie ließ an eine Erscheinung denken, eingehüllt in flimmernde Rauchschleier, ausgebrütet von den Geistern der Hitze. Und doch war sie eindeutig aus Fleisch und Blut, denn sie röchelte und krümmte sich und schnappte nach Luft. Sie trug Jeans, eine dunkelblaue Tschuba. Ihr schwarzes Haar klatschte ihr um die Schultern, als sie herumwirbelte und ich ihre wild flackernden Augen sah.
    »Kunsang!«
    Ein Hustenanfall raubte mir die Stimme. Während alle jammerten und schrien, hielt sie die Flagge wie ein Siegeszeichen empor, das Gesicht staubverschmiert, die Augen nass von Tränen. Es gab Augenblicke, da die Waghalsigsten zu zaudern anfingen und fürchteten, das Geschick zu sehr herauszufordern. Kunsang schien dieses Gefühl nicht zu kennen. Es war, als ob sie keine Schmerzen empfand, der Gefahr keine Beachtung schenkte, sie nicht einmal wahrnahm. Wieder krachte eine Salve, diesmal von links, zerriss die Luft mit einem schrillen Katzenlaut. Kunsang zuckte zusammen. Sie ließ die Flagge fallen, griff mit beiden Händen an ihre Brust, 337
    betrachtete mit verblüfftem Gesichtsausdruck ihre blutigen Finger.
    »Kunsang!«, schrie ich, doch sie hörte nicht, ließ sich nicht von dem fassungslosen Starren auf ihr Blut ablenken. Atan sprang hoch; lautlos rannte er auf sie zu, war schon bei ihr, als sie auf die Knie sank. Ich lief hinter ihm her, wich einer weinenden Frau aus, prallte gegen einen Mann, der hilflos die Arme schwenkte. Kunsangs Augen schienen von Feuertränen gerötet. Zuerst sah es aus, als ob sie lächelte, aber nun erkannte ich, dass ihr Mund vor Schmerz verzerrt war. Atan griff ihr unter die Arme, half ihr, sich aufzurichten.
    Kunsang stieß einen kurzen Schrei aus, deutete auf ihre Brust. Das Blut aus ihrer Wunde war scharlachrot.
    »Kannst du gehen?«, fragte ich.
    Ihre Kraft schien plötzlich zu Ende. Sie leckte sich die verkrusteten Lippen; doch ihre Antwort konnte ich nicht hören.
    Schweres Motorendröhnen erstickte jeden Laut. Lastwagen schienen von allen Seiten zu kommen. Soldaten, mit elektrischen Schlagstöcken bewaffnet, verstreuten sich unter die Menge. Sie teilten wahllos Hiebe aus, packten die hilflos Schreienden, zerrten sie auf ihre Wagen. Wir liefen, Kunsang stützend, über die Straße.
    Überall versuchten die Menschen, sich in Sicherheit zu bringen. An manchen Stellen war der Sand schwarz vor Blut. Die meisten Toten lagen in Höfen und verwinkelten Gassen, wo die Kugeln sie auf der Flucht erreicht hatten. Die Fliehenden zerrten uns mit sich, überrannten uns fast. Kunsang knirschte mit den Zähnen und stöhnte; ihre Haut war fahl, ihre Lippen waren fast bläulich. Jeder Schritt schien ihr Qualen zu bereiten. Atan legte die Arme um sie, trug sie beinahe. Alle liefen schneller als wir. Jede Minute zählte, doch wir kamen nur langsam vorwärts. Plötzlich öffnete sich eine Tür. Eine alte Frau spähte heraus. Sie erblickte uns, winkte uns herein.
    Keuchend, atemlos zerrten wir Kunsang in den dunklen Eingang. Es war höchste Zeit – gerade als die Tür zufiel, ertönte das Dröhnen eines Motors: Ein Lastwagen bog mit quietschenden Bremsen um die Ecke, donnerte an dem Haus vorbei. In der

Weitere Kostenlose Bücher