Die Tochter der Tibeterin
bandagieren und sie mit Morphium vollpumpen.«
»Sie wird es schaffen.«
»Ich kann es nicht sagen. Wieviel Zeit, glaubst du, habe ich?«
»Bis es dunkel wird. Sie verhängen Ausgangssperre. Macht kein Licht, sonst sehen sie, dass hier Leute wohnen. Schiebt den Riegel vor und geht nicht an die Tür, bevor ihr dieses Signal hört.«
342
Er klopfte leise mit den Fingerknöcheln, in einem besonderen Rhythmus. Chime runzelte angestrengt die Stirn, weil sie schlecht hören konnte. Ich sah ihn an und nickte. Atan hielt meinen Blick ein paar Sekunden lang fest.
»Gut. Ich gehe wieder hinaus.« Er deutete mit dem Kopf zur Tür.
»Wir sehen uns später.«
Jähes Entsetzen stieg in mir auf. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er wieder gehen würde. Plötzlich fühlte ich mich leer und elend.
Würde er zurückehren? Und würde er rechtzeitig kommen?
»Ich habe so eine Ahnung«, sagte ich widerstrebend, »dass du ein gefährliches Spiel treibst.«
Er streckte seine Hand nach der meinen aus und hielt sie einen Augenblick fest.
»Es sieht nur so aus. Die Chinesen sind heute anderweitig beschäftigt.«
»Was hast du vor, Atan?«
Er verzog die Lippen, doch es war kein Lächeln in seinem Gesicht.
»Was ich vorhabe, wird ihnen wohl in Erinnerung bleiben.«
343
35. Kapitel
S obald Atan gegangen war, bereitete ich meine Instrumente vor.
Nie, auch nicht in meinen schlimmsten Träumen, hatte ich mich in solcher Lage mit einer schwer Verletzten gesehen. Nachdem die Lautsprecher die Ausgangssperre verkündet hatten, war draußen alles ruhig, merkwürdig ruhig. Die schräge Sonne schien durch das Zeitungspapier; bald würde die Straße im Schatten liegen. Ich musste mich beeilen. Ob Chime wohl eine Taschenlampe hatte? Sie besaß eine, zum Glück. Ich bat sie, mir das Licht über die Hände zu halten.
Der Verband war mit frischem Blut durchtränkt, was mich sehr beunruhigte. Ich horchte Kunsangs Brust ab und merkte, dass mit ihrem Atem etwas nicht stimmte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie tief schlief, machte ich mich an die Arbeit. Ich reinigte gründlich das Einschussloch, wobei zwischen den zersplitterten Knochen immer wieder das hellrote Blut heraussickerte. Behutsam schnitt ich die Hautfetzen fort; zwei Rippen waren in schlimmem Zustand. Offenbar hatte die Kugel die Lunge um Haaresbreite verfehlt, denn mit einem Loch hätte die Lunge ja nicht atmen können. Aber die Schmerzen mussten entsetzlich sein. Ich richtete den Bruch, so gut ich konnte. Chime hielt die Lampe. Es stellte sich heraus, dass die alte Frau eine Zeitlang als Krankenschwester gearbeitet hatte; sie reichte mir Instrumente in der richtigen Reihenfolge und tupfte geschickt das Blut weg, wenn es zu stark floss. Als ich fertig war, verband ich die Wunde, umwickelte Kunsangs Oberkörper so fest wie möglich. Die innere Blutung war es, die mir am meisten Sorgen bereitete. Unter der Wirkung des Morphiums dämmerte Kunsang bewusstlos dahin. Für mich gab es im Augenblick nichts mehr zu tun; ich reinigte und versorgte meine Instrumente. Meine Hände waren nun steif und ich stellte fest, dass mir das Gesicht weh tat.
»Du bist sicher hungrig«, sagte Chime. »Ruh dich aus. Ich werde dir etwas zu essen machen.«
»Ja…«, sagte ich geistesabwesend. »Ja, vielen Dank!« Ich nahm mir endlich Zeit, meine eigene Kopfwunde zu untersuchen. Sie war nicht tief und würde bald heilen. Nicht der Rede wert, dachte ich.
Chime schob mir ein Kissen hinter dem Rücken zurecht, damit ich mich bequem anlehnen konnte. Sie schnitt ein großes Stück Butter ab, gab es in die Thermoskanne zu dem heißen Tee. Sie schüttelte 344
beides, bis sich die Butter ganz aufgelöst hatte, und füllte eine Schale. Der heiße Tee tat mir gut. Ich aß Tsampa mit ein paar Brocken Käse und eingelegtem Rettich vermischt. Kunsangs gurgelnde Atemzüge waren deutlich zu hören. Dann und wann untersuchte ich ihren Verband. Die Blutung hatte offenbar nachgelassen; ich schöpfte neuen Mut. Mit der Erleichterung setzte die Nachwirkung der ausgestandenen Strapazen ein; alle Knochen taten mir weh. Ich lehnte mich enger an das Kissen, schloss die Augen. Ich merkte nicht, dass ich eingeschlafen war. Plötzlich wachte ich auf; im flackernden Licht der Butterlampe auf dem Altar sah ich ganz nahe Chimes Gesicht. Ich richtete mich sofort auf, die Augen weit aufgerissen.
»Ach Chime, du hättest mich wecken sollen!«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist gut, dass du geschlafen hast. Du hast
Weitere Kostenlose Bücher