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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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eine lange Nacht vor dir.«
    »Wie lange ist Atan schon fort?«
    »Ziemlich lange. Es ist schon dunkel.«
    »Ich habe Angst um ihn«, entfuhr es mir.
    »Das brauchst du nicht«, erwiderte sie mit leisem Lächeln. »Atan wird nichts geschehen. Mein Gefühl sagt es mir.«
    »Und Kunsang?«
    »Sie kommt wieder zu sich. Ich habe ihr zu trinken gegeben.«
    Ich strich mein Haar hinter die Ohren, beugte mich über die Verletzte. Im schwachen Licht sah ich Kunsang auf dem Sofabett liegen, mit verschwommenen Augen, still in ihrem Schmerz.
    Allmählich ließ ihre Benommenheit nach und ein gewisser Grad von Wiedererkennen kehrte in ihr Gesicht zurück.
    »Wie fühlst du dich? Besser?«
    Ihre verkrusteten Lippen bewegten sich.
    »Ich… ich kann schlecht atmen.«
    »Du hast zwei Rippen gebrochen. An mehreren Stellen sogar.«
    »Ich spüre sie unter der Haut. Sind es wirklich zwei?«
    »Ja, ich musste den Verband sehr eng ziehen.«
    Sie nickte; ihr Gesicht war wachsbleich und eingefallen.
    »Tara…«
    Ich setzte mich und fühlte ihren Puls. Ihre Haut war heiß und trocken, in den schmalen Gelenken klopfte das Fieber.
    »Ja, Kunsang, was möchtest du sagen?«
    Sie hatte immer noch diese kindliche, mir nahezu unbekannte 345
    Stimme.
    »Ich hatte einen seltsamen Traum. Wirklich seltsam. Hast du auch schon von Menschen geträumt, die dich rufen?«
    »Rufen? Wie meinst du das?«
    »Zuerst war alles dunkel. Dann wurde es hell und die Sonne schien. Ich sah eine weite, grüne Landschaft. Und dann einen kleinen Jungen und eine Frau, die ritten. Der kleine Junge war Atan… Ich glaube jedenfalls, dass er es war. Und die Frau war seine Mutter –
    könnte das sein?«
    »Ja, ihr Name war Shelo.«
    »Sie war wunderschön. Sie trug ein rotes Kleid und Ketten aus Bernstein.«
    Kunsang sah mich mit glänzenden Augen an, wie verklärt. Ich zwang mich zu einem Lächeln.
    »Sie konnte singen, wie du.«
    »Nein, besser. Atan hat mir von ihr erzählt. Ich werde nie so gut singen wie sie, auch nicht in zehntausend Jahren… «
    Sie verstummte, schwer atmend, suchte mühsam nach Worten.
    Mein Herz zog sich zusammen.
    »Still, Kunsang! Schone deine Kräfte…«
    »Ich bin schon in Ordnung. Was wollte ich sagen? Ach ja! Sie sprach zu mir…«
    »Wer? Shelo?«
    Ihr Gesicht verzog sich; sie röchelte und schluckte. Kleine Sauerstoffblasen, mit Blut gerötet, zerplatzten an ihren Mundwinkeln. Ich tupfte ihr das Kinn ab.
    »Es ist besser, du redest nicht mehr.«
    Sie rang nach Luft.
    »Nein… hör zu, was Shelo gesagt hat!«
    »Was sagte sie denn?«
    »Sie… sie rief mich. Kunsang, rief sie! Komm! Warum kommst du nicht? Ich warte schon lange! Bei mir wirst du vieles lernen.
    Findest du das nicht komisch, Tara? Sie ist doch schon so lange tot.«
    Sie sah mir verwegen in die Augen, stieß ein sonderbares Geräusch aus, als ob sie lachen wollte, wobei sie gleichzeitig mit den Zähnen klapperte. Mir war, als fahre mir ein feines Messer ins Herz.
    Erst jetzt begann ich die Tragweite ihrer Worte zu verstehen. Das ist das Fieber, sagte ich zu mir selbst. Oder das Morphium, oder beides zusammen. Und im selben Atemzug war mir klar, dass da etwas anderes war. Vor Kunsangs visionärer Zauberkraft, die auf ihrem 346
    Gesicht leuchtete, hätte ich mich am liebsten versteckt. »Warum bist du so?«, dachte ich, schaudernd und fasziniert. Diese Dinge, die einer anderen Wirklichkeit angehörten, waren nicht eigentlich schrecklich, sie hatten auch etwas Tröstendes an sich. Kunsang schien das jedenfalls so zu empfinden. Und so streichelte ich ihre Hand.
    »Ich finde den Traum nicht komisch, ich finde ihn schön.«
    »Ja. Der schönste von allen…«
    Sie schloss die Augen, atmete in unregelmäßigen Stößen. Ich drückte ihre Hand, die in der meinen lag.
    »Nein, Kunsang, du kannst nicht mehr schlafen. Atan kommt gleich. Wir müssen heute Nacht hier weg.«
    Sie strengte sich an, mir ins Gesicht zu sehen. Ihr Blick war unstet, und sie hatte einige Schwierigkeiten, ihre Gedanken zu ordnen, aber ich brauchte ihr die Gründe nicht näher zu erklären.
    »Wir gehen mit den Pferden. Ich werde den Verband gut verknoten. Hast du noch Schmerzen?«
    »Kaum noch.«
    »Ich werde dir noch eine Injektion geben.«
    Ihr Blick wanderte suchend im Raum umher.
    »Und Chime?«
    Die alte Frau schlurfte näher, streichelte beruhigend ihre Hand.
    »Ich erlebe solche Dinge nicht zum ersten Mal, Kind. Denke an deine eigene Sicherheit! Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
    Draußen

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