Die Tochter der Tibeterin
was mein Verstand vergessen hatte. Mir wurde flau im Magen, und ich sagte:
»Danke. Die kannst du dir sparen. Na schön. Ich werde ihr eine stärkere Dosis Morphium geben und den Eingriff versuchen. Aber danach braucht sie dringend Ruhe. Vielleicht kann Chime…«
Er unterbrach mich, schüttelte ernst den Kopf.
»Dringend oder nicht, hier kann sie nicht bleiben.«
»Wo soll sie denn hin?«
»Wir reiten in die Berge. Ich kenne einen Ort, wo wir in Sicherheit sind.«
»Sie kann in diesem Zustand nicht reiten.«
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»Was, glaubst du, werden die Chinesen jetzt machen? Mah-Jong spielen? Es ist nur eine Frage von Stunden, und sie werden jedes Haus durchsuchen. Sie wissen, dass die Bewohner verletzte Demonstranten verstecken.«
»Warte, Atan, lass mich… «
»Nein. Sie werden Kunsang finden und Chime verhaften. Ihr Mann besaß nur ein winziges Stückchen Land, aber er wurde als Großgrundbesitzer verhaftet und musste Schwerarbeit in einem Steinbruch verrichten, bis er starb. Ist dir klar, was die Folgen sind?«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Eine bedrückende Stille trat ein. Es war, als breitete sich diese Stille über die ganze Straße, die ganze Stadt aus, als Vorbereitung auf einen Schmerz, der kein Ende nahm. Doch die alte Frau blickte gelassen und kummervoll und schüttelte ruhig den Kopf. Sie war es, die das Schweigen brach.
»Das macht nichts, mein Sohn. Früher hatte ich Angst vor Alter und Tod. Das ist nun vorbei. Wir leben sowieso weiter, auf jede nur mögliche Weise. Sie aber ist zu jung, um zu sterben.«
»Keiner ist zu jung, um zu sterben!«
Die Worte waren mir in einer Art dumpfer Wut entschlüpft. Hier gab es keine blutdürstigen Äußerungen, kein Geschrei nach Rache.
Es lag weder in unserem Wesen noch in unserer Kultur. Es hatte auch keinen Sinn, und zu gewinnen war dabei nichts. Wir nahmen den Irrsinn hin und ertrugen ihn, auch wenn er unerträglich war. Wir klammerten uns an unsere Kraft, oder wessen Kraft es immer war, um zu versuchen, uns aufrecht zu halten, hier in diesem erschreckenden Ort. Und was versuchte ich da zu entscheiden? Alles war doch längst entschieden, vor langer Zeit. Schicksal nannte man das, wenn es kein Entkommen mehr gab.
»Tara«, sagte Atan, »hör mir zu.«
Er hielt meine Hand fest, und seine Augen hefteten sich an meine Augen.
»Kunsang muss hier raus. Glaube mir! Auch die Mönche, die demonstriert haben. Sie wurden alle gefilmt. Wer sich als Märtyrer sieht, dem kann nicht geholfen werden. Wir müssen sie in Sicherheit bringen. Heute können wir das noch. Morgen nicht mehr.«
Ich versuchte meinen Kopf zu klären. Ich glaube nicht, dass ich je vor einer Situation stand, die böser war.
Atan seufzte und erhob sich. Er trat nahe an das bewusstlose Mädchen heran, legte einen Augenblick lang seine Hand auf ihre Stirn. Als er mich ansah, waren seine Augen umwölkt, und seine 341
Stimme klang eine Spur rauer als sonst.
»Es ist ein Risiko, ich weiß.«
»Du rechnest also mit Schwierigkeiten?«
»Ich rechne immer mit Schwierigkeiten.«
Ich stieß die Spur eines spöttischen Lachens aus.
»Es gibt einfach zu viele Schwierigkeiten!«
»Du blutest«, antwortete er, mit einem besorgten Unterton in der Stimme.
Meine Hand fuhr an die schmerzende Stirn, an der sich schon eine Kruste gebildet hatte.
»Nur eine Schramme.«
Er ließ mich nicht aus den Augen.
»Du bist müde.«
»Ja, sehr. Es war einfach grauenhaft!«
»Schlimmer als sonst.«
»Die Taring-Brüder! Man hat sie auf schreckliche Weise gefoltert. Warum nur?«
»Die Chinesen haben einige Dinge über sie herausgekriegt, die sie längst vermutet hatten. Sie wollten mehr Informationen und sind der Sache nachgegangen. Auf ihre ganz besondere Art.« Er schüttelte den Kopf und zwang die Worte heraus. »Man hat mir einiges erzählt…«
»Ich kann es nicht hören«, flüsterte ich. »Bitte, sei still!«
»Ja, das ist besser. Die Mönche werden Gebete für sie sprechen.«
Ich verschränkte die Arme, um mein Zittern zu unterdrücken.
»Glaubst du, Kunga hat Dorje das Leben gerettet? Mir kam es jedenfalls so vor…«
»Ja. Noch genau fünf Sekunden, und er wäre erledigt gewesen.«
»Weißt du, was ich denke, Atan? Dass wir alle verrückt sind!«
»Manchmal empfiehlt es sich sogar, als Mittel zum Zweck.«
Seine Stimme war wieder ganz sachlich. »Warum starrst du mich so an? Ist etwas nicht in Ordnung mit mir?«
Ich atmete die Luft mit einem kleinen Stoß aus.
»Also gut. Ich werde Kunsang
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