Die Tochter der Tibeterin
mehr ein Zittern vor Wut. Ich presste die Zähne zusammen. Konnte ich denn nicht ruhig werden? Nein, da war nichts zu machen.
Ich ging ins Badezimmer; Neonlicht blitzte auf, ich sah mein verstörtes Gesicht im Spiegel. Ich nahm eine warme Dusche, legte mich hin und schlief fast sofort ein. Mitten in der Nacht wachte ich auf, mit dem irrsinnigen Gefühl, schon zu lange im Bett zu sein, hellwach. Eine Zeitlang rührte ich mich nicht, dachte an Belanglosigkeiten, versuchte wieder einzuschlafen. Und dabei, im Bemühen, an nichts oder nur an Unwichtiges zu denken, trat die Wahrheit an die Oberfläche. In Wirklichkeit hatte Kunsang nur Atan im Kopf. Ihre Beweggründe standen klar vor mir, wie die fernen Berge vor dem Sturm; wie sie ihn, als kleines Kind noch, zur selben Zeit kennengelernt hatte wie das Leben. Hatte sie nicht, nach Chodonlas Tod, voller Sehnsucht und vergeblich auf ihn gewartet?
Hatte er sie nicht unter eigener Lebensgefahr entführt und in Sicherheit gebracht? Sie hatte ein Bild für ihn gemalt, ein Bild, das ein Mädchen auf einem Pferd zeigte. Monatelang hatte er das Bild von ihr bei sich getragen und ihr schließlich den lang ersehnten Kindertraum erfüllt und sie in seinen Armen auf den Pferderücken gehoben. Das war im Tashi-Pakhiel-Camp gewesen, wo sie Atan ganz allein für sich gehabt hatte. Sie musste oft das Lied für ihn gesungen haben, das Lied, das er ihr, nach langem Flehen vermutlich, endlich beigebracht hatte. Damals war Kunsang noch ein Kind gewesen. Ihr inneres Auge sah mit Neugierde und Staunen die Visionen, die sich in ihrem Geist formten. Jene Bilder, für die sie keine Erklärung fand, die Atan jedoch vertraut waren.
So, wie ich sie einschätzte, musste sie das geheime Wechselspiel zwischen ihnen überaus genossen haben. Er indessen begriff wohl 147
nicht, warum seine Erinnerungen solchermaßen von ihr gelenkt wurden. Und er konnte sich nicht einmal die Ohren zuhalten. Ob er wollte oder nicht, sie kam wieder in sein Gedächtnis zurück, sie, in ihrem roten Kleid; er erinnerte sich, wie ihre Füße in den bestickten Stiefeln Abend für Abend über die Steinplatten, die Holzleitern hinauf, durch das Dunkel der Klosterburg hindurch zum Turm gestiegen waren. Und wie er – ein kleiner Junge nur – ihr gefolgt war, zu ihrem Schutz mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Es war diese Zeit, und das Grauen, das folgte, das Kunsang in ihm sichtbar machte. Dabei musste er einen Augenblick der Panik erlebt haben, bevor er Kunsangs völlige Unschuld erkannte. Die Vergangenheit war immer da, in ihm; es war der Zauber einer Kinderstimme, die sie geweckt hatte.
In diesen frühen Stunden vor Tagesanbruch wurde mir plötzlich klar, dass Kunsang in Furcht und Schrecken lebte. Sie besaß die einzigartige Gabe, in die Träume anderer Menschen zu schlüpfen und sie sichtbar zu machen. Aber eine Gabe kann auch ein Fluch sein. Atans Worte damals kamen mir in den Sinn, in meiner Erinnerung hörte ich sie ganz deutlich:
»Es ist notwendig, dass Kunsang von hier wegkommt. Glaube mir, Tara! Ich habe nachgedacht und weiß genau, was ich sage.«
Und was Kunsang betraf: dass sie leiden konnte, hatte ich als Möglichkeit nicht bedacht. Sie war ein Geschöpf, das sich selbst eher entdecken als mitteilen konnte. Sie hatte ein starkes Schweigebedürfnis, aber ihre Gefühle mochten heftig, vielleicht sogar pathologisch sein. Sie war ein Kind, das in einer anderen Art und Weise lebte, nicht zweifelnd – das wäre einfach gewesen –, sondern in Gewissheit. Du machtest es mir wirklich schwer, Kunsang, und du hattest diesen Blick, der mich rücksichtslos in Schranken hielt und sehr beleidigend wirkte. Du verbargst deine Gedanken, und ich trug jahrelang das ungelöste Rätsel mit mir herum:
»Wer ist sie?«
»Warum willst du das wissen?«, stellte ich mir jetzt die Frage.
»Um sie zu verstehen.«
»Warum sprichst du mit dir selbst, Tara?«
»Weil ich nicht schlafen kann.«
»Sie hat doch alles aufgeschrieben, brauchst doch nur nachzusehen.«
Das Tagebuch? Amla hatte es wieder sorgfältig in Plastik 148
eingewickelt und in irgendeine Schublade verstaut.
»Aber du hast es noch gut im Kopf…« Ich fing plötzlich an zu schwitzen, warf heftig die Decke zurück. Meine ganze Sachlichkeit leistete mir keine Hilfe. Kunsang war jetzt in Tibet, und dass sie ihn suchte, stand für mich außer Zweifel. Besessenheit trieb sie zu ihm.
Sie kramte für ihn in zersplitterten Bildern; die Splitter ritzten ihm die Haut auf, er
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