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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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blutete vor Sehnsucht. Sie schuf diese Bilder ganz methodisch, gewann zunehmend an Macht über ihn und war schon alt genug, um das zu spüren. Dieses gemeinsame Erlebnis musste stets gegenwärtig für sie sein, ihre wesentliche Beziehung zum Gefühl, zur Kindheit. Aber kein Echo kam aus der tiefen Nacht, die sie heraufbeschwor; man hatte die Stimme umgebracht.
    »Ich rieche einen Duft, wie den Duft von Mandelkernen. Und dann gehe ich an viele Orte und sehe seltsame Dinge… «
    In Wirklichkeit hatte sie nur den einen im Kopf, zwangsläufig und seit Jahren. Sie hatte stur ihr Ziel verfolgt; ihre Beharrlichkeit war bemerkenswert. Es war eine Herausforderung, auf jeden Fall ein heftiger Schlag gegen mich. Es gab mir einen Stich durch und durch, als ich es so klar erkannte; und nach dem Stich kam abermals die Wut. Einsam, gedemütigt, überwältigt von Eifersucht und Schmerz, verstrickte ich mich wieder in quälende Selbstgespräche.
    »Sei ehrlich zu dir selbst, Tara. Warum willst du nach Tibet? Nur ihretwegen?«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht!«
    »Du hast Angst vor ihr – gib es doch zu!«
    Der Gedanke schien völlig unglaublich. Und doch - er setzte sich in meinem Hirn fest. Ich starrte auf den Lichtstreifen, der zwischen Mauer und Fensterladen breiter wurde. Zu dieser besonderen Zeit, vor Tagesanbruch, herrschte für eine Weile tiefe Stille. Irgendetwas wirkte in mir, die Erinnerung nahm die Gestalt eines Mannes an. Das Bild war zuerst verschwommen, dann wandte ich mich etwas zur Seite und sah es deutlicher: das kräftige Haar, die scharfen, violettfarbenen Augen, die dunkle Haut, die Narbe auf der Stirn. Ich flüsterte seinen Namen; er umfing mich mit seinen starken Armen, schmiegte seinen nackten Körper gegen meinen. Ich roch seinen Geruch, einen Geruch aus der Welt der Steppen und Salzseen, ein schweres Aroma aus Fett, Moschusöl und Holunderrinde. Mein Atem flog; mein Bauch und meine Schenkel zitterten in reflexartigen Aufwallungen, wolllüstige Erregung breitete sich in Wellen aus, überflutete mich. Ich versank tief und tiefer, ging in diesem Strom 149
    unter, ließ mich treiben. Wie lange war es her? Sieben oder acht Jahre? In einem anderen Leben? Gestern?
    »Schluss jetzt, Tara! Werde nicht sentimental.«
    »Ich bin etwas überdreht, weiter nichts. Sollte nicht vorkommen.«
    »Und Kunsang?«
    »Sie wird da sein, wo er ist! Habe ich nicht recht?« Das erste, noch unsichere Zwitschern der Vögel kündigte das Nahen des Morgens an. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Längst vergessene Empfindungen hatten in dieser Nacht ihre Wiedergeburt erlebt. Es war das erste Mal, dass sie mich packten, mit solcher Deutlichkeit, mit solcher Kraft. Und gegen die Macht solcher Erinnerungen war ich wehrlos. »Was willst du eigentlich? Was gedenkst du zu tun?«
    Diesmal kam die Antwort schnell und entschieden.
    »Ich weiß, es kommt etwas plötzlich, aber so bin ich eben. Mir steht Urlaub zu. Und siehst du, ich werde nach Tibet gehen.«
    »Bei dir wundert mich gar nichts mehr. Ja, und eigentlich ist das keine schlechte Idee…«
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17. Kapitel

    D ass eine Tibetreise zur Selbstfindung dienen kann, gehört zu den üblichen Gemeinplätzen. Wie merkwürdig, dass wir Tibeter der Suche nach dem Sinn des Lebens nur wenig Beachtung schenken!
    Vielleicht, weil unsere Vorfahren so nahe am Paradies lebten, sind geistige Hürden für uns leichter zu bewältigen. Am Meer, in der Ebene, im Tal unten sehen die Menschen das Gebirge als Hindernis, als schicksalhafte Mauer. In den Bergen wandert der Blick frei umher unter dem schwebenden Himmel. Die kristallklare Luft webt aus Lichtstrahlen Formen und Symbole, die sich zu Gottheiten verdichten und uns in großer Klarheit und Leuchtkraft erscheinen. So schafften wir Tibeter uns einen »himmelsgleichen Raum« im Bewusstsein, schöpften aus der Unendlichkeit des Raumes einen Zustand des Friedens und der Konzentration. Wir lebten und bewegten uns in diesem visionären Kreis des Geistig-Religiösen; mit der Realität fanden wir uns ab, weil wir wussten, dass nichts wirklich von Dauer ist, nicht einmal die Berge.
    Ich war Tibeterin, aber ich hatte einen Schweizer Pass und musste mit einer Gruppe nach Tibet einreisen. Der Gruppenzwang gehörte zu den Maßnahmen einer ins Kollektiv vernarrten, pathologisch misstrauischen Bürokratie, für die jeder Mensch zur Nummer wird, die hin und her geschoben, durchgestrichen, addiert oder subtrahiert werden kann. Nun, das war Theorie.

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