Die Tochter der Tibeterin
deutsches Ehepaar aus Berlin – beide Dozenten, die einen prachtvollen Sonnenbrand spazieren führten –, ein kanadischer Maler mit einem melancholischen Christusgesicht, unentwegt über sein Skizzenbuch gebeugt; zwei muskulöse Australier, einige Amerikaner und eine Gruppe Japaner, alle nach neuester Bergsteiger-Mode ausstaffiert.
Wir mussten uns pünktlich einfinden; der junge tibetische Reiseführer sagte, Loten Shapto würde uns die Papiere höchstpersönlich überreichen. Der Guide war sein Sohn Dadul, ebenso wohlbeleibt wie der Vater und ebenso gut gelaunt. Nach anfänglicher Zurückhaltung – alle starrten sich nervös und gegenseitig abschätzend an – kamen wir allmählich ins Gespräch.
Unruhe wurde immer deutlicher spürbar. Wieso wurden uns die Papiere erst am Flughafen ausgehändigt? Dadul hob resigniert die Schultern. Er konnte es nicht sagen. Aber es würde schon alles klargehen, meinte er. Dieser bürokratische Nervenkrieg diente vermutlich dazu, potenzielle Querulanten abzuschrecken; anders ließ es sich kaum erklären. Ungeduld nutzte hier nichts; auch das Schimpfen auf den Gruppenzwang nicht. Also warteten wir, in einer Reihe sitzend und schicksalsergeben. Ich dachte: »Wenn ich es so nicht schaffe, muss ich es eben anders versuchen.«
Eine Viertelstunde vor dem Abflug stürmte Loten Shapto verschwitzt und mit strahlendem Lächeln in die Flughalle. Jedem von uns wurde ein Faltblatt von violett-lindgrüner Farbe in die Hand gedrückt. Ich betrachtete das Papier. Auf dem Deckblatt stand: »The Peoples Republic of China, Aliens Travel Permit.« Drinnen, sorgfältig handgeschrieben, alle Personalien sowie Reiseziel und Daten. Ferner war der Name des tibetischen Reiseführers vermerkt.
Das Ganze zierte ein gewaltiger roter Stempel mit dem Tor des Himmlischen Friedens und ein großer Stern mit vier kleinen drumherum. Das passähnliche, aufklappbare Dokument war vom PSO ausgestellt. Daduls Name bürgte dafür, dass er seine Schäfchen wieder ins Trockene – also über die Grenze – bis zum Ablaufdatum des Passes zu begleiten hatte. Sein Vater musste ihm gesagt haben, dass ich mich in Lhasa von der Gruppe absondern würde; leichtsinnig genug, es in Kauf zu nehmen und sich keine Sorgen zu machen.
Wirklich erstaunlich, wie glatt alles gelaufen ist, dachte ich etwas später, als die von Neu-Delhi kommende B 747 der China South-157
West-Airlines nach einem ziemlich rumpeligen Start Richtung Himalaya flog. Ich saß neben einem vollbärtigen jungen Japaner, der vor lauter Faszination immer wieder mit der Stirn an die Scheibe knallte. Der Himmel war von tiefem, kristallhartem Blau. Die Abendsonne schimmerte golden, und der Schatten des Flugzeuges, vor- und zurückspringend, lief auf Wolken neben uns her. Mir war, als ob die Wolken die ganze Erde umspannten. Und über dem Wolkenmeer ragten uns im Sonnenlicht unendlich viele weiße Spitzen entgegen, die einen fern, die anderen näher. Hohe Berge, gefroren in Eis und Schnee, eine Traumwelt, ein eigener Kosmos.
»Ist das nicht atemberaubend?«, sagte der kanadische Maler in seinem singenden Englisch. »Deshalb komme ich immer wieder, trotz Einschränkungen und Schikanen. Ich kann nicht anders, ich bin vernarrt in diese Landschaft. Ich habe stets mein Skizzenbuch dabei.
Die Farben trage ich später ein. Da, sehen Sie!«
Die Fotos, die er aus seiner Brieftasche zog, gaben mir einen Eindruck von seinen Gemälden, die in verschiedenen Galerien ausgestellt wurden. Ich war beeindruckt von der Kraft seiner Darstellung, von den klaren, vibrierenden Farben. Der magere, traurig blickende Mann war froh, mit jemandem sprechen zu können, der zuzuhören verstand – und ich war eine gute Zuhörerin.
»Wissen Sie, meine Frau war Tibeterin. Sie starb vor zwei Jahren. Meine Kinder sind erwachsen, führen ihr eigenes Leben. Ich habe Verwandte in Lhasa. Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Tibet war ein rückständiges Land, wie Sie wissen.
Neue soziale Impulse waren dringend nötig. Jene, auf die es ankam, hatten das längst begriffen. Der tibetische Adel hatte Reformen eingeleitet, die Mönchselite soweit gebracht, dass eine Erneuerung des verkrusteten theokratischen Systems in greifbarer Nähe lag.
Langsam zwar und widerstrebend, aber beharrlich. Es ist eine Tragik der Geschichte, dass die Chinesen Tibet gerade zu dem Zeitpunkt eroberten und seine Kultur und Religion weitgehend zerstörten, als die Reformen sich durchsetzten. Aber inzwischen gab es Blut,
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