Die Tochter der Tibeterin
Damals, im Tashi-Pahkiel-Camp, war ich in alle nur erdenklichen Tricks eingeweiht worden, wie man als Einzelperson über die Grenze kam.
Ich hatte reichlich Zeit gehabt, mich in dieser Welt zurechtzufinden, weil ich aus der falschen Welt kam. Mir waren das stundenlange Warten vertraut und die Bestechungsgelder, die träge Bürokratie, die jede offizielle Handlung in feierlich-kategorischen, überflüssigen Humbug verwandelten. In dieser aufreibenden Prozedur konnte ich keinen Augenblick entdecken, der nicht von unfreiwilliger Komik war. Aber Sarkasmus gehörte zu den Eigenschaften, die keinen bürokratischen Erfolg versprachen. Ich würde ein ernstes Gesicht machen, wie es sich gehörte.
Flugreisen verändern unsere Beziehungen von Raum und Zeit; wir werden fast ohne Übergang von einem Ort zum anderen versetzt.
Das beginnt bereits am Flughafen: Wir werden aufgenommen, eingefangen, mit dem Passagierstrom vorwärtsgetrieben. Wir fühlen 151
uns leicht überdreht, ohne anderen Bezugspunkt als die Stimmen, die uns leiten. Es war Mai, ein kalter, nasser Frühling. Über den Flugplatz zogen scharfe Windstöße und Schauer. Die künstliche Luft war stickig; ich spürte eine Schwere in den Gliedern, eine Unruhe in der Brust. Die Maschine flog unruhig; Wolkenschichten glitten vorbei; ich fühlte mich erleichtert, höher und höher zu steigen bis zur Sonne, die ich dabei überraschte, wie sie hinter der Dunstschicht in rotem Glanz emportauchte. Als das Flugzeug wendete und Kurs über die Alpen nahm, warfen die verschneiten Berge das Licht zurück; mir war, als wären es weiße Katags – Glücksschärpen –, die zum Abschied wehten. Aber meine Ängste, Sorgen und Befürchtungen konnte ich nicht im Nebelsmog zurücklassen; sie begleiteten mich, wie ein Teil meines Körpers.
Das Flugzeug war voll besetzt: Amerikaner, Schweizer, viele Japaner, mit Trekkingausrüstung unterwegs. Eine Frau neben mir rieb sich die Hände mit Kölnisch Wasser ein. Der Duft war frisch und belebend. Durch die Sonnenbrille sah ich den leuchtenden Himmel, und meine Gedanken schwebten mit dem Flugzeug.
Ich hatte Kunsang mit erzwungener Sachlichkeit zu verstehen versucht und war kläglich dabei gescheitert. Sie war der Schatten tief in mir, die dunkle Meerestiefe, das Unbegreifliche. Ich hatte ihr ein Leben geboten, mit dem sie nichts anfangen konnte. Sie hatte in unserer Familie gelebt, gleichgültig, freundlich zumeist, aber sie hatte eine nachtragende Art zu schweigen. Hier im Flugzeug, in großer Höhe, wo nichts von Dauer war, schämte ich mich, weil ich so wenig Mitgefühl gezeigt hatte. Das belastete mich sehr.
Stunden vergingen. Ich versuchte zu schlafen, obwohl durch das Sitzen meine Arme steif wurden. Auch die Tagträume, in denen ich mich immer wieder verlor, waren mir lästig. Sie gingen im Kreis, sie brachten mich nicht weiter.
Bald nach der Zwischenlandung in Karatschi wurden bereits die ersten Hügelzüge Nepals sichtbar. Die ockergelbe Landschaft weit unten ging in tief ausschwingende Täler über. Grüne Kuppen wölbten sich wie die Hüften einer schönen Frau. Dann – ganz plötzlich – holten uns Wolken ein, silbrig glänzend und blendend.
Und noch später, als das Wolkenmeer zurückblieb, brannte die Sonne wie ein weißes Feuer, und aus dem kobaltblauen Horizont wuchsen langsam die ersten Schneegipfel der Himalayakette empor, starrten uns an über den Rand der Welt.
Unendlich viele Spitzen und Grate, Berge über Berge; Giganten, 152
an denen jede Zeitrechnung zerbrach, von Geistern bevölkert, in fortwährender Umwälzung. Keine unveränderte Ewigkeit, nein, sondern ein Wachsen und Sterben, ein Zerstören und Neugeborenwerden, ein ständiges In-Bewegung-Sein der Erdkruste.
Wir waren nur Menschen; unser Leben verging schnell. Was waren wir angesichts der Berge? Winzige Kreaturen, die ihr Leben in kleinen Freuden und unbedeutenden Leiden erschöpften. Ich empfand einen großen inneren Frieden bei dem Gedanken. Die Nacht kam; unter der sinkenden Sonne funkelten die Gipfel im reinsten, vollendeten Rot. Es war, als ob das glühende Erdinnere für ein paar Augenblicke am Horizont hochschlug. Es machte mir keine Angst. Ich hatte das merkwürdige, gänzlich unsinnige Gefühl, dass diese Berge mich liebten, mich riefen und auf mich warteten.
Von Kathmandu hatte ich nie ein vertrautes Bild gewinnen können; es war keine Stadt, die man wiederfindet, wie man sie verlassen hat. Hier lebten die Menschen nicht nach ihrem Willen,
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