Die Tochter der Tibeterin
konnte, die wie ich auf die Bewilligung wartete. Loten Shapto arbeitete mit einer tibetischen Partneragentur. Er würde jetzt meine Unterlagen nach Lhasa faxen.
Für gewöhnlich traf dann bald – nach einem Computercheck und dem Okay der staatlichen Einreisebehörde – die Bewilligung per Fax ein. Jeder Teilnehmer war numeriert, alle persönlichen Daten mit Nationalität und Passnummer waren aufgeführt und im Immigrationscomputer gespeichert. Widrigkeiten mussten in Kauf genommen werden.
Ich hatte Loten Shapto erklärt, dass ich in Tibet Verwandte besuchen wollte. Dazu benötigte ich eine weitere Bewilligung, für die ich zusätzlich bezahlen musste. Loten Shapto machte mich darauf aufmerksam, dass ich überall – außer in Lhasa – meine Erlaubnis zur Übernachtung vorzeigen musste, und dass verlangt wurde, mich beim PSO (Public Security Office) registrieren zu lassen. Loten Shapto schüttelte sich vor Lachen: Wenn ich in einem Kloster oder bei Verwandten übernachtete, brauchte ich mich nicht zu melden. Mein europäisch geschultes Denken rebellierte angesichts dieser Schikanen. Alles ging auf bizarre Art hintenherum, so wie ein chinesisches Bühnenstück das Paradies in märchenhaften Farben vorgaukelt und Unterdrückung und Korruption als Requisiten aufstellt. Mir wurde schwindlig bei dem Gedanken an die enormen Mittel, die der Bürokratie zur Verfügung standen, um jeden Einzelnen zu kontrollieren. Im heutigen China – zu dem auch die
»autonome Region Tibet« gehörte – war Freiheit nur eine optische Täuschung und in manchen Fällen lediglich die Erlaubnis zu leben.
Na gut. Loten Shapto kassierte seine Vorauszahlung und meinte, ich sollte mir keine Sorgen machen. Ich konnte mir schon denken, dass er einen Teil des Geldes für Bestechung verwendete, aber das war nicht mein Problem.
Ich hatte von meiner Mutter die Adresse einer Cousine erhalten und machte mich auf die Suche nach ihr. Aber ich hatte Pech. Ihre Tochter hatte einen Amerikaner geheiratet; sie war mit ihrem Mann 155
nach Dallas gezogen und hatte ihre Mutter nachkommen lassen. In ihrer früheren Wohnung lebte jetzt eine indische Familie. Sonst kannte ich niemand mehr in Kathmandu; zuviel Zeit war vergangen.
Zur Untätigkeit gezwungen, suchte ich den Laden in der New Road auf, wo Kunsang gearbeitet hatte. Ich fand ihn neben einem Kino, in dem eine indische Schnulze lief. Das grellbunte Plakat zeigte eine vollbusige Schönheit neben einem säbelschwingenden Muskelprotz. Im Laden roch es nach Sandelholz und Amber.
Seidenballen stapelten sich im Helldunkel, leuchteten in verführerischen Farben. Der Besitzer war nicht da, aber seine Frau hielt mich für eine Kundin und tauchte sofort auf, schmeichelnd und sirrend wie eine Biene. Sie hatte erschreckend schwarze Augenbrauen. Als ich nach Kunsang fragte, blickte sie misstrauisch.
Ich erklärte ihr, dass es sich um meine Nichte handelte. Das Gesicht der Händlerin hellte sich etwas auf, doch sie wurde deswegen kaum liebenswürdiger. Ja, eine Tibeterin mit diesem Namen hatte bei ihr einige Wochen gearbeitet. Sie hatte die junge Frau angestellt, weil sie verschiedene Fremdsprachen beherrschte, sogar Chinesisch.
Leider hatte Kunsang als Verkäuferin versagt. Sie war nicht freundlich genug; kaum ein Lächeln, meinte die Händlerin und legte die Stirn in verdrießliche Falten. Auch war sie unfähig gewesen, einen Sari auszumessen und richtig zu wickeln. Die Händlerin hatte versucht, es ihr beizubringen, und offenbar viel Zeit dabei verloren.
»Ich erklärte es ihr hundertmal und immer vergeblich. Sie hörte einfach nicht zu! Es ist schlimm, wenn eine Frau nicht mit Stoffen umgehen kann… «
»Ja«, seufzte ich, »Kunsang war in vielen Dingen ungeschickt.
Wo wohnte sie denn?«
Die Händlerin schaute interessiert zur Tür. Zwei Touristinnen steckten den Kopf herein und gingen dann weiter. Die Frau hob missgelaunt die Schultern.
»Bei Verwandten, hat sie gesagt.«
»Ja, da wird sie wohl gewohnt haben«, meinte ich, wohl wissend, dass Kunsang hier keine Verwandten mehr hatte.
»Und eines Tages«, erzählte die Händlerin, »hat sie ihre Stelle gekündigt. Einfach so. Von einem Tag zum anderen. Wir haben sie nie wiedergesehen.«
»Sie ist jetzt in Tibet«, sagte ich.
Die Händlerin runzelte die pechschwarzen Brauen.
»Wahrscheinlich ist sie Kommunistin«, meinte sie tadelnd.
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Unsere kleine, bunt zusammengewürfelte Gruppe lernte ich erst am Tribhuvan International Airport kennen: ein
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