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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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viel vergossenes Blut. Es haftet an den Händen der Besetzer, wie an Lady Macbeths Hand.«
    Ich wunderte mich, wie gut er Bescheid wusste. Er war, was Tibet betraf, weder romantisch noch sentimental, nicht so wie manche Ausländer.
    »Wäre es nicht so entsetzlich tragisch, könnte man fast darüber lachen, dass die Besetzung im Namen sozialer Gerechtigkeit 158
    erfolgte. Und jetzt gibt es in allen Dingen zweierlei Maß, ob es um Schulbildung, Beruf, Gehälter oder Freiheiten geht. Was die Chinesen in Tibet treiben, ist kein Kolonialismus, sondern Apartheid.«
    Der kanadische Maler seufzte und gab zu, dass er von der Menschheit keine sehr hohe Meinung mehr hatte. »Sehen Sie, auf politischer Ebene geht es auf unserer Welt wie in einem Sandkasten zu. Die Kinder streiten sich um Förmchen und Schippe. So fängt es an, später geht es mit Panzern und Raketen weiter, aber ist es nicht im Grunde dasselbe? Die Menschen wollen die Welt ordnen, die Elemente beherrschen; sie schütten Täler zu, bauen Staudämme, tragen Berge ab. Die Menschen wollen nicht mehr Teil der Natur sein. Aber die Natur weist uns in unsere Schranken und trägt den letzten Sieg davon. Deswegen male ich Berge. Ich habe das Gefühl, dass sie uns auslachen, und empfinde eine große Befriedigung dabei.«
    »Sind Sie Bergsteiger?«, wollte ich wissen.
    Er schüttelte belustigt den Kopf.
    »Um Gottes willen, nein! Ich kriege den Höhenkoller!«
    Die chinesische Hostess servierte gelangweilt einen Imbiss, und die Berliner sprachen mit Sachkenntnis über die Klöster, die sie besichtigen wollten. Die Sonne berührte die Grenze des Himmels; mohnrote Felder flammten zwischen den Schneebergen auf. Über lila schimmernde Gletscher kroch das dunkle Blau eisiger Schatten.
    Wir flogen bereits über Tibet.
    159

18. Kapitel

    D ie Maschine landete, von Windstößen geschüttelt; es war bereits Nachmittag, wir hatten Verspätung. Ich wünschte mir vergeblich, dass alles schnell ging. Doch die Kontrollen waren endlos. Die olivgrüne Mütze und der Plastikausweis mit seinem Konterfei machten jeden chinesischen Beamten zu einem kleinen Despoten. Die Reisenden erlebten hilflos, wie man sie von Kopf bis Fuß abtastete, ihre Taschen umstülpte und ausschüttelte. Jedes Gepäckstück wurde durchwühlt. Die Beamten genossen das sehr und dachten an die Prämie, die ihnen zukam, wenn sie irgendein unerlaubtes Importgut aufspürten oder eine fehlerhafte Visaeintragung entdeckten. Endlich hatten wir es hinter uns. Der Autobus, der unsere kleine Gruppe in das gebuchte Hotel brachte, schaukelte schwerfällig durch die verstopften Straßen einer typisch chinesischen Stadt. Teilnahmslos und müde blicken wir durch die staubigen Fenster. Überall die so genannten »Plattenbauten«, überall blinkende Fensterfronten. Die seltenen tibetischen Häuser waren zugemauert; sie verkamen. Bald würden die Bagger sie abreißen, und ein neuer Plattenbau würde aus dem Boden wachsen. Der Autobus fuhr an einer Verkehrsinsel vorbei. Zwischen dem VW-Emblem und dem Funkhaus stand auf einem Sockeln ein vergoldeter Yak, gigantisch und protzig. Auf einem anderen Sockel spannte ein Reiter auf einem sich bäumenden Pferd seinen Bogen. Überall, an jeder größeren Straße, erhoben sich Monumentaldenkmäler, über die man am besten lachte – wenn man nicht heulen wollte. Wir kamen an Shopping-Centern vorbei, an Karaoke-Bars, an Spielhallen.
    Eifrige Bauplaner hatten jede Straße mit dem Lineal gezogen; korrekt und schnurgerade, damit die Militärfahrzeuge ja nicht auf Hindernisse stießen! Die Straßen trugen entsprechende Namen:
    »Shanghai-Straße«, »Beijin-Straße«, »Straße der Befreiung«,
    »Straße des Fortschritts«. Vor den Ampeln staute sich der Verkehr, unzählige Fahrräder klingelten. Leute liefen mit hastigen Schritten vorbei. »Guten Tag, Lhasa«, dachte ich. »Du bist langweilig, farblos, hässlich. Ich liebe dich nicht. Ich habe dich nie vermisst. Aber wo bist du wirklich, Lhasa? Du bist irgendwo, du lebst in der Erinnerung jener, die dich gekannt und geliebt haben. Du schwebst in Netzen aus Luft, aber dunkel ist die Wand zwischen Gestern und Niemehr.
    Es ist ein Weitergehen in der Geschichte, ein stilles Sich-Auflösen, 160
    unabwendbar wie das Schicksal.«
    Der Bus nahm eine Kurve, und plötzlich erschien am gelben Himmel der Potala, türmte sich auf mit zinnenbewehrten Terrassen, mit Pfeilern und Mauer, die aus dem Felsen wuchsen. Zwischen den grauen Neubauten erschien er völlig

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