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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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sondern nach den Gesetzen der Notwendigkeit. Jahrhundertelang hatte die Herrscherkaste der Rana, mit den indischen Rajputen verwandt, eisern, blutrünstig und grandios regiert. Nach und nach gaben sie die politische Macht aus der Hand, überließen den Handel anderen; ihre verweichlichte Dynastie verstrickte sich in Korruption und lächerlich unnütze mittelalterliche Intrigen. Die Nevari, die Ureinwohner des Kathmandutals, hatten ihrerseits unzählige Tempel gebaut, jeder Fingerbreit Holz an Balken und Giebel mit wundervollen Schnitzereien geschmückt. Doch auch dieser Glanz erlosch. Der Zerfall war da, und er begann von innen. Die Touristen, in der Betrachtung der Vergangenheit versunken, beschleunigten den Niedergang. Kathmandu schien von Mal zu Mal weniger imstande, das Wachstum seiner Bevölkerung, die Anarchie seines Verkehrs in den Griff zu bekommen. Nicht verputzte, bereits verkommene Betonklötze verfaulten zwischen großen und kleinen Heiligtümern, zwischen mit Waren vollgestopften Läden, unzähligen Imbissstuben, Restaurants und Cafés.
    Mein Hotel, das »Moonshine«, lag mitten in der Stadt und gab sich modern, was bedeutete, dass die Einrichtung schon in die Brüche ging. Von meinem Fenster aus fiel der Blick auf das lebensgefährliche, stickige Durcheinander von rücksichtslos hupenden Pkws, Fahrrädern, knatternden Motorrädern und romantisch verkommenen Rikscha-Wägelchen. Lastwagen donnerten an feingliedrigen Frauen vorbei, die am Straßenrand ihr 153
    schönes Haar kämmten oder sich an öffentlichen Brunnen wuschen.
    Kleine Kinder spielten unbeaufsichtigt im Schmutz, atmeten vergiftete Dieselluft ein. Die Touristen, mit ihrer üblichen Mineralwasserflasche versehen, wandten geniert die Augen ab, wenn ihnen zerlumpte Bettler die ausgemergelte Hand entgegenhielten. Sie bewunderten staunend die weißgetünchten Paläste, die wie amerikanische Hochzeitstorten aussahen. Die Säulen, Balkone und verschnörkelten Fenster hätten aus Zuckerguss sein können, die Kuppeln türmten sich wie Schlagsahne. Aus der Nähe gesehen war alles baufällig, abgeblättert, verstaubt und unaufhaltbar vermodert.
    Der Begriff »lebendige Geschichte« hatte für mich wenig Sinn; man konnte ihn – genau genommen – auch bei gewissen Blickpunkten Zürichs anwenden. Und es war auch keine Alternative zur Vergangenheit; es war einfach so, dass die Neuzeit sich durchsetzte, unvermeidlich, brutal, und die Touristen suchten zu ihrem eigenen Egoismus das, was wie früher lebte und atmete; sie nahmen es den Menschen anderer Kontinente übel, wenn diese sich weigerten, wie im Museum konserviert zu werden.
    Und gleichwohl, zwischen abstoßender Hässlichkeit und aufstrebendem Wachstum war die Poesie stets gegenwärtig. Die Ziegeldächer der Heiligtümer und Pagoden schimmerten wie grüngoldene Drachenflügel, Bronzeglocken verbreiteten ihr summendes Echo. Mit dem Lauf der Sonne warfen wechselnde Licht-und-Schattenspiele geheimnisvolle Schimmer auf Kleider und Gesichter, auf Seidenstoffe, farbig wie Edelsteine, auf funkelndes Kupfer und schillernden Glasuren. Frauen in leuchtenden Saris wanderten gelassen dahin und hielten Blumen in den Händen.
    Schönheit funkelte in jedem klaren Zug ihrer Gesichter, in jeder sanften, geschmeidigen Bewegung ihrer Körper. Es sah aus, als berühre sie weder Verdrießlichkeit noch Kleinkram. Es mochte eine Art Lethargie sein, aber die Poesie wanderte lächelnd mit ihnen. Die alten Götter in ihrer Weisheit bekämpften nicht den Fortschritt, und Buddha blickte erhaben über das Chaos der Jahrhunderte und die Hektik der neuen Welt.
    Tibetische Freunde in Zürich hatten mir ein Reisebüro in Thamel, dem kitschig-berüchtigten Touristenviertel, empfohlen; es befand sich gegenüber dem Bildungsministerium. Der Besitzer, Loten Shapto, war ein Hüne von einem Mann, der mit Vorliebe zwei Reihen prachtvoller Goldzähne zeigte. Als ehemaliger Trekking-Führer war er mit diversen Sechstausendern vertraut. In Loten 154
    Shaptos Büro prangten etliche Fotos von Bergsteigern, die alle in einer Reihe – mit ihm selbst in der Mitte – posierten. Ein großes, handkoloriertes Bild Seiner Heiligkeit nahm den Ehrenplatz ein.
    Loten Shapto bat mich um zwei Tage Geduld, und er würde alles in die Wege leiten. Sein imposanter Bauch schüttelte sich in fortwährendem Gelächter; die bürokratischen Hürden Chinas mochten ihm wie Maulswurfshügel vorkommen. Ich erfuhr, dass ich mich einer kleineren Gruppe anschließen

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