Die Tochter der Tibeterin
Gestalten kauerten und lagen auf Zeitungen oder zerdrückten Pappkartons. Betrunkene und Drogensüchtige, starrend vor Schmutz, dösten abgestumpft vor sich hin. Ein zerlumpter Halbwüchsiger 162
wühlte in einem Abfallhaufen. Rauchschwaden stiegen hier und da aus der Müllhalde auf. Auch das war Tibet: eine Welt voller Not, Schrecken und stiller Tragödien. Infolge der gezielten Ansiedlung von chinesischen Handwerkern und Bauern waren viele junge Tibeter arbeitslos. Die Chinesen wendeten ihre bewährten Ruckzuck-Methoden an, schickten die Jugendlichen als Drückeberger und Asoziale in Umerziehungslager. Danach ging es mit ihnen schnell bergab. Es war unsagbar trostlos zu sehen, wie sie verlotterten. Hatte Kunsang dieses Elend gesehen? Ja, natürlich, dachte ich bitter, auch das wird sie gesehen haben.
Endlich kam der Bus, ein rumpeliges chinesisches Fahrzeug, das stinkende Abgase über die ganze Straße schickte. Die Farbe splitterte ab, Kühlerhaube und Kotflügel waren verbeult. Holpernd und klappernd fuhr der Bus den Lingkor, die äußere Ringstraße entlang.
Der Wagen war überfüllt. Ich stand eingepfercht in einer Menschentraube, die sich lachend und fröhlich unterhielt. Der prallen Sonne wegen trugen viele Tibeter ihren breitrandigen Filzhut.
Aus dem Stimmengewirr kamen Worte, Satzstücke, die ich plötzlich verstand, in dem singenden, lässigen Ton meiner Kindheit. Eine Frau hielt mir eine Tüte mit Sonnenblumenkernen entgegen. Woher ich komme, wollte sie wissen. Ich sagte, dass ich aus Nepal kam und Verwandte besuchte, wobei ich mich kurz fasste, damit meine zögernde Aussprache nicht allzu sehr auffiel. Einige Haltestellen weiter stiegen zwei Chinesen ein, deren graue Jacken mit den vielen Taschen sie als Kaderleute auswiesen. Das Lachen und Erzählen erstarb; es wurde eigentümlich still im Bus. Die Mitreisenden unterhielten sich nur noch im Flüsterton, und ich merkte, wie sich die Beklemmung auch auf mich übertrug. Wir benahmen uns alle, als hätten wir etwas Böses getan, ohne uns erinnern zu können, worin unser Fehler denn lag. Das Gefühl war äußerst unbehaglich, aber die Chinesen schienen nichts davon zu merken. Sie unterhielten sich laut und zwanglos und fanden auch bald einen Sitzplatz. Allmählich nahm die Hitze zu; ich fühlte, wie Schweiß mein Gesicht mit einem klebrigen Film überzog. Die Klosterstadt Drepung liegt etwa zehn Kilometer in westlicher Richtung von Lhasa, gleich hinter dem scheußlichen Industriegebiet mit seinen Schornsteinen und verrosteten Werkstätten. Drepung bedeutet »Reishaufen«, was auf die Vielzahl der weiß getünchten Gebäude am Berghang zurückzuführen war. Sie gehörte zu den drei mächtigen Klöstern aus dem 13. Jahrhundert, die man auch die »Säulen der Lehre«, nennt.
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Ich wusste, dass in Drepung – früher eine bedeutende theologische Universität –, vor der chinesischen Invasion über achttausend Mönche lebten. Die Äbte übten eine wesentliche politische Macht aus, sie beeinflussten die Staatsgeschäfte Tibets sehr stark. Dazu kam, dass die Göttin Dorje Dragmogyel, die im Kloster verehrt wurde, als »Zornvolle Göttin« das Tal beherrschte. Sie bediente sich der Kräfte der Natur – Meteoriten, Kugelblitze, Hagelkörner –, um das Böse zu vernichten. Diese Wesensart ihrer Schutzherrin prägte zweifellos die Gesinnung der Mönche. Die knapp zweihundert, die es heute noch gab, galten als besonders streitbar und wurden von den Behörden wachsam beobachtet. Die chinesische Feststellung »In Drepung sitzt eine Eule unter hundert Geiern« war auch in Lhasa eine Redensart geworden. Das war auch heute noch so, und ich bekam es zu spüren: Kurz vor dem Kloster brachte eine Straßensperre den Verkehr zum Stillstand. Alle Reisenden mussten aussteigen. Die Soldaten kontrollierten die Passierscheine, durchsuchten das Gepäck. In der brütenden Sonne standen wir am Straßenrand; ich vermied aufzufallen, wartete mehr oder weniger schicksalsergeben, bis ich an die Reihe kam. Ein chinesischer Offizier prüfte meine Papiere lange und gründlich. Wo meine Verwandte denn wohnte, wollte er wissen. Ich nannte den Namen des Dorfes und machte mich aufs Schlimmste gefasst. Doch eine große Kolonne Militärfahrzeuge forderte mit lautem Hupen Durchlass. Der Offizier gab mir gedankenlos die Papiere zurück und stürmte los, um Befehle zu erteilen. Mich hatte er – bis auf weiteres
– vergessen.
Sobald ich wieder einsteigen konnte, verdrückte ich mich ganz
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