Die Tochter der Wanderhure
auf das heilige Kreuz schwören durfte, da er angeblich nicht zu betrunken sei. Auch Magnus von Henneberg hatte darauf gedrängt, dass sein Bruder schwor und so von dem Verdacht, der Mörder zu sein, freigesprochen werden konnte, und da keiner der übrigen Gäste annahm, er würde die Seele seines Bruders vorsätzlich dem Höllenfeuer preisgeben, hatten Pratzendorfer und Graf Magnus sich durchgesetzt.
Der Beginn der Litanei riss Marie aus ihren Überlegungen. Obwohl sie sich für eine gläubige Frau hielt, lauschte sie nicht den lateinischen Worten. Sie hatte an Gottesdiensten in Böhmen teilgenommen und gehört, wie dort zu Gott und Christus gebetet wurde, und wusste auch, wie man im fernen Russland die heilige Messe feierte. Die Form war in ihren Augen leerer Tand. Es kam nur auf den Geist an, der die Gebete beseelte. Ihr Blick heftete sich auf die kleine Statue der Muttergottes, die sie neben der heiligen Maria Magdalena am meisten verehrte, und sie sprach ein stilles Gebet. Dabei bedauerte sie, dass ihre Lieblingsheilige in dieser Kapelle nicht mit einem Bildnis geehrt worden war. Dann aber musste sie daran denken, wie oft sie auf freiem Feld zu Maria Magdalena gebetet hatte – oder in jenem kleinen Zelt, in dem sie hatte hausen müssen –, denn zu jener Zeit hatten die meisten Geistlichen und Mönche die Kirchentür vor ihr verschlossen gehalten.
Während der Priester die Messe auch diesmal voller Inbrunst las, wanderten Maries Gedanken weiter, und sie fragte sich, wer denn nun wirklich für Michels Tod verantwortlich war. Auch wenn die beiden Männer, die in schlichten weißen Gewändernauf einem grob zugehauenen Holzbrett knieten und weiße Kerzen in Händen hielten, hier vor dem Sarg einen heiligen Eid schworen, diesen Mord nicht begangen zu haben, mochte dennoch einer von ihnen der Täter sein. Der Würzburger Bischof war mächtig und gewiss in der Lage, von Seiner Heiligkeit, Papst Eugen IV., einen Ablassbrief für diesen Meineid zu beschaffen. Doch welcher der beiden mochte es gewesen sein? Der impulsive Henneberger oder Eichenloh, der kalt wie Eis zu sein schien und jedem mit Spott begegnete?
Marie presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Auch wenn sie es Michel schuldig war, seinen Mörder zu finden und zu bestrafen, wollte sie nicht aufs Geratewohl einen dieser Männer verdächtigen oder gar verfolgen lassen. Ihr Blick streifte Ingobert von Dieboldsheim. Er war zwar ein Feigling, aber einen Stich aus dem Hinterhalt traute sie ihm zu. Einige der Würzburger Vasallen wie Gressingens Onkel Maximilian von Albach kamen ebenfalls in Betracht, und sie durfte auch Ludolf von Fuchsheim nicht außer Acht lassen. Dieser hatte Michel und ihr mehr als seinen halben Besitz überschreiben müssen, um Geld für die Aussteuer und Vorräte für diese Feier zusammenzubekommen.
Nimm dich zusammen, sonst verdächtigst du noch die ganze Welt, schalt Marie sich. Sie brauchte Beweise und keine Vermutungen. Doch der einzige Beweis, den es gab, war Graf Ottos Dolch. Am liebsten hätte sie alles andere von sich geschoben und den jungen Henneberger als den Mörder ihres Mannes angesehen. Doch mit seinem Schwur würde er sich der irdischen Gerechtigkeit entziehen, und auf die Strafe des Himmels zu hoffen, war, wie Marie selbst wusste, ein höchst unsicheres Unterfangen.
Otto von Henneberg quälten schwere Zweifel. Denn so klar, wie Cyprian Pratzendorfer es allen weisgemacht hatte, vermochte er sich nicht zu erinnern. Am Tag zuvor war er noch sicher gewesen, nicht der Mörder Michel Adlers zu sein, aber nun tauchte dieSzene, in der er diesen wüst beschimpft und seinen Dolch gezückt hatte, immer wieder vor seinem inneren Auge auf. Er war seinem Freund Eichenloh unendlich dankbar, dass dieser ihm die Waffe aus der Hand geschlagen hatte. Was danach mit dem Dolch geschehen war, wusste er jedoch nicht. Auch vermochte er nicht zu sagen, was zwischen dem Streit und dem Augenblick geschehen war, in dem sein Bruder ihn geweckt hatte.
Im Gegensatz zu seinem Freund Otto hatte Peter von Eichenloh ein reines Gewissen. Er hatte Michel Adler nicht umgebracht und konnte dies jederzeit beeiden. Aber auch er fragte sich, wer der wahre Mörder sein mochte. Inzwischen glaubte er nicht mehr so fest, dass sein Freund unschuldig war, denn einer seiner Bekannten hatte ihm in der Nacht von den Ereignissen in den Hilgertshausener Weinbergen erzählt.
Wie es aussah, hatte Otto, dieser Narr, nicht nur versucht, die Kibitzsteiner
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