Die Tochter der Wanderhure
Menschen und trug eine Bischofsmitra aus Papier auf dem Kopf.
Die beiden Mädchen waren so in ihr Tun vertieft, dass sie die Annäherung der Mutter nicht bemerkten. Eben spannte Hildegard den Bogen, zielte und schoss. Der Pfeil schnellte von der Sehne und traf die Strohfigur dort, wo bei einem Menschen der Magen war.
»Das hat gesessen«, rief das Mädchen mit triumphierender Stimme.
»Jetzt bin ich dran, und ich werde ihm direkt in sein schwarzes Herz schießen!« Auch Lisa spannte den Bogen und schoss. Im gleichen Augenblick ließ ein Hüsteln hinter ihr sie zusammenzucken, und sie verzog den Pfeil, so dass dieser an dem Strohmann vorbeizischte.
»Ich dachte, du wolltest dem Bischof das Herz aus dem Leib schießen«, tadelte Hildegard sie. Dann entdeckte auch sie dieMutter und wies stolz ihren Bogen vor. »Wir werden die Soldaten des bösen Bischofs alle erschießen, damit sie uns nichts tun können!«
»Die Leute des Bischofs sind keine Gestalten aus Stroh, sondern stecken in eisernen Rüstungen, gegen die ihr mit euren Kinderbögen nichts ausrichten könnt. Da ist es besser, wenn ihr im Fall einer Belagerung den Mägden beim Wasserkochen helft, damit wir den Feinden einen warmen Empfang bereiten können.« Hildegard protestierte. »Wir treffen gut! Ich bin sogar noch besser als Lisa. Wir können die Würzburger töten.«
»Ich glaube nicht, dass es erstrebenswert ist, einen anderen Menschen umzubringen.« Doch noch während sie es sagte, begriff Marie, dass auch sie dazu bereit war, ihre Familie und ihre Heimat mit blanker Klinge zu verteidigen.
Sie umschlang die Mädchen und drückte sie an sich. »Ich habe euch lieb.«
»Wir dich auch, Mama.« Lisa schmiegte sich an sie, während Hildegard ein wenig scheu zu Marie aufblickte.
»Sie werden uns nicht von Kibitzstein vertreiben, nicht wahr?«
Marie strich ihr das vom Wind zerzauste Haar aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein, das können sie nicht!«
Innerlich war sie jedoch nicht davon überzeugt, denn die Drohungen, die sie über verschiedene Ecken erreicht hatten, ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Auch hatte sie auf die Botschaft, die sie Albrecht von Brandenburg Ansbach mit der Bitte geschickt hatte, sich bei König Friedrich für sie zu verwenden, bislang keine Antwort erhalten. Wie es aussah, stand Kibitzstein allein einem vielköpfigen, zu allem entschlossenen Feind gegenüber, und da galt es, den Würzburger Bischof nicht noch mehr gegen sich aufzubringen. Mit einer energischen Handbewegung wies sie auf die Strohfigur.
»Es gefällt mir nicht, dass ihr auf etwas schießt, das einem Menschen gleicht. Auch ziemt es sich nicht, einen Vertreter der heiligenKirche zum Ziel zu nehmen. Ihr werdet das da zerstören. Wenn ihr schon schießen wollt, dann lasst euch eine Scheibe aus Stroh drehen.«
Lisa zog ein enttäuschtes Gesicht. »Aber Mama! Mit einer Scheibe können wir doch nicht lernen, wo man einen Feind treffen muss, damit er hinüber ist«, protestierte Lisa.
Maries Blick wurde hart. »Ihr habt gehört, was ich euch befohlen habe. Also handelt danach. Wir haben genug Feinde auf dem Marienberg! Da müssen wir Herrn Gottfried Schenk zu Limpurg nicht zusätzlich reizen. Was, glaubt ihr, wird er sagen, wenn er erfährt, dass ihr auf eine Strohfigur schießt, die ihn darstellen soll?«
Das sahen die beiden ein, und während Tränen über Hildegards Wangen perlten, fasste Lisa nach Maries Hand. »Es tut uns leid, Mama! Wir wollten dir nicht noch mehr Kummer bereiten.«
»Das tut ihr doch nicht!« Marie drückte die Mädchen erneut an sich und sagte sich, dass sie selbst gegen den Teufel kämpfen würde, um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern.
8.
E twa um dieselbe Zeit stand Magnus von Henneberg auf der Mauer der Festung Marienberg und blickte auf die Stadt Würzburg hinab, die jenseits des Mains am anderen Ufer lag. Zwar führte eine Brücke hinüber, dennoch trennte der Fluss die Feste des Bischofs stärker von der Bürgerstadt, als die steinernen Quader sie zu verbinden vermochten. Schon mehrfach hatten sich die Einwohner Würzburgs gegen ihre geistliche Herrschaft erhoben und versucht, den Status einer freien Reichsstadt zu erhalten. Bislang waren die Herren auf dem Marienberg stets Sieger geblieben, und der jetzige Fürstbischof war noch weniger bereit als seine Vorgänger, die Stadt seiner Herrschaft entgleiten zu lassen.
Graf Magnus’ Gedanken wanderten zurück in die Zeit, in der Männer seiner Sippe noch
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