Die Tochter der Wanderhure
Burgkapelle aufhielten, um für Michis sichere Heimkehr zu beten. Raten konnten die beiden ihrer Mutter nicht, aber sie nahmen sich ein Beispiel an ihr und versuchten, sich ihre Angst nicht vor dem Gesinde anmerken zu lassen.
An diesem Morgen ertrugen die Mädchen die beengende Atmosphäre der Burg nicht mehr. Daher schlichen sie in Schafsfellumhängen, die sie wie Mägde aussehen ließen, aus dem Tor, eilten den Burgberg hinab, so schnell Schnee und Eis es zuließen, und liefen ins Meierdorf, um Alika zu besuchen. Als sie das Häuschen erreichten, in dem die Mohrin wohnte, sahen sie Alika und Theres vor einem Schuppen stehen, in dem zwei Knechte aus der Burg einen großen, alten Planwagen instand setzten.
»Was machen die da?«, fragte Hildegard neugierig.
Alika schenkte ihnen erst einen tadelnden Blick, weil sie unbegleitet die Burg verlassen hatten, legte dann aber die Finger auf die Lippen und lächelte traurig. »Ihr habt sicher Appetit auf etwas, das die Glieder wärmt. Kommt mit ins Haus.«
Die Mädchen hatten zwar gerade je einen großen Becher Morgenbier getrunken, dennoch folgten sie der Mohrin, in der Hoffnung, diese würde ihnen erklären, was hier vorging.
In der Küche füllte Alika drei Becher mit einem heißen Absud verschiedener Kräuter, den sie am Morgen lieber trank als Bier, und setzte sich auf einen Stuhl. Sie wartete, bis auch die beiden Mädchen Platz genommen hatten, hob dann ihren Becher und trank so langsam, als wolle sie ihre Erklärungen auf diese Weise hinauszögern.
»Ihr solltet eigentlich nicht wissen, was wir vorhaben. Theres und ich werden Habichten verlassen.«
»Ihr wollt fort?« Lisa machte ein Gesicht, als würden die beiden Frauen übelsten Verrat begehen.
»Wollen ist nicht der richtige Ausdruck. Eure Mutter hat uns darum gebeten. Die Spatzen pfeifen es bereits vom Dach, dass Magnus von Henneberg Truppen sammelt, um Kibitzstein anzugreifen. Angeblich sucht er Rache für seinen Bruder, dem Trudi das Gesicht zerschnitten hat. In Wahrheit aber steckt der Fürstbischof dahinter. Herr Gottfried will an Kibitzstein ein Exempel statuieren, um den anderen Burgherren in diesen Landen zu zeigen, dass sie sich besser nicht gegen ihn stellen sollten.«
»Aber was hat das mit euch zu tun?«, unterbrach Hildegard die Mohrin.
Alika versuchte zu lächeln, doch es wurde ein Zähnefletschen. »Eure Mutter weiß, dass sie der Macht des Fürstbischofs auf Dauer nicht widerstehen kann. Wenn nicht der Markgraf von Ansbach zu ihren Gunsten einschreitet – und danach sieht es im Augenblick nicht aus –, wird sie Kibitzstein verlieren. Aus diesem Grund lassen Theres und ich den Wagen herrichten. Die Knechte werden einen zweiten Boden einziehen und dadurch ein Geheimfach schaffen, in dem wir Geld, Schmuck und andere wertvolle Dinge fortbringen können, die eure Mutter nicht den Feinden in die Hände fallen lassen will. Sollte es zum Äußersten kommen, werdet ihr wenigstens nicht als Bettler dastehen.«
Lisa schlug die Hände vors Gesicht. »Aber wo wollt ihr denn hinfahren? Jetzt, mitten im Winter, kommt ihr doch nicht weit!«
»Das ist natürlich ein Geheimnis. Doch eure Mutter wird nichts dagegen haben, wenn ich es euch mitteile. Kommt näher!« Alika winkte die Mädchen zu sich, umschlang sie mit den Armen und zog sie an sich.
»Theres und ich werden nach Kessnach fahren. Diesen Besitz kann euch der Fürstbischof nicht wegnehmen, da er Pfälzer Lehenist. Dort werden wir abwarten, was hier geschieht. Solltet ihr von eurer Mutter getrennt werden, dann strebt danach, Kessnach zu erreichen.«
»Das werden wir tun!« Lisa schenkte der Mohrin einen dankbaren Blick und ärgerte sich gleichzeitig über ihre Mutter, die es nicht für nötig gehalten hatte, sie in ihre Pläne einzuweihen. Doch sogleich schämte sie sich für diesen Gedanken. Die Mutter hatte auf so vieles zu achten und noch mehr zu tun, dass sie sicher nicht daran gedacht hatte.
»Danke, Alika!« Erleichtert küsste Lisa die Mohrin auf die Wangen und wechselte dann einen beredten Blick mit ihrer Schwester. »Wenigstens werden wir eine Heimat haben und Falko ein Erbe, wenn wir von hier vertrieben werden.« Sie sagte es in einem so ehrlichen Ton, als wäre nie erwogen worden, dass sie selbst den Kessnacher Besitz als Mitgift erhalten sollte.
Alika strich ihr gerührt übers Haar und dachte sich, was für ein prachtvolles Mädchen aus dem Säugling geworden war, den Sklavenhändler einst mit Marie und ihr in ein fernes Land
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