Die Tochter des Fotografen
schon mal was geraucht?«
Paul schüttelte ängstlich und verschämt den Kopf.
»Du wirst nicht abhängig davon – wenn’s das ist, wovor du Schiß hast. Ich hab’s schon zweimal gemacht, es ist absolut gigantisch, kannst du mir glauben.«
|277| Der Himmel war noch immer grau, und der Wind spielte mit den Blättern der Bäume. In der Ferne hörte man das Pfeifen des nächsten Zugs.
»Ich hab keinen Schiß«, sagte Paul.
»Wovor auch«, entgegnete Duke. »Kostprobe gefällig?«
»Klar.« Er sah sich um. »Aber nicht hier.«
Duke lachte. »Meinst du, hier sieht uns irgend jemand?«
»Hörst du das?« fragte Paul. Duke nickte, und dann sahen sie den Zug, der aus der entgegengesetzten Richtung langsam näher kam und immer größer wurde. Sein Pfeifen zerschnitt die Stille. Sie sprangen von den Schienen und standen sich, durch die Gleise getrennt, gegenüber.
»Laß uns zu mir gehen«, rief Paul, als der Zug heranrauschte. »Es ist niemand zu Hause.« Er stellte sich vor, wie sie auf dem neuen geblümten Sofa seiner Mutter einen Joint rauchten, und mußte lauthals lachen. Dann brauste der Zug zwischen ihnen hindurch: Donner und Stille, Donner und Stille. Duke erschien vor ihm im Blitzlicht, als hätte sein Vater eine seiner Serien geschossen.
Sie gingen zurück zu Duke, holten ihre Fahrräder, überquerten die Nicholasville Road und fuhren langsam durch die Wohnsiedlungen zu Paul.
Die Haustür war abgeschlossen, der Schlüssel lag wie immer unter der losen Steinplatte beim Rhododendron versteckt. Innen war es warm, es roch ein bißchen muffig. Während Duke zu Hause anrief, um Bescheid zu geben, daß er später kommen würde, öffnete Paul eines der Fenster, und der Luftzug spielte mit den Vorhängen, die seine Mutter genäht hatte. Als sie noch nicht arbeitete, hatte sie jedes Jahr das Haus umdekoriert. Er sah sie vor sich, wie sie über der Nähmaschine fluchte, wenn der Stoff sich bauschte und verfing. Die Vorhänge zeigten vor einem cremefarbenen Hintergrund Landpartien in einem Dunkelblau, das genau auf die dunkelblau gestreifte Tapete abgestimmt war. Er erinnerte sich daran, wie er am Tisch gesessen und die Figuren betrachtet |278| hatte, als könnten sie sich plötzlich in Bewegung setzen, als könnten sie aus ihren Häusern treten, die Wäsche aufhängen, zum Abschied winken und einfach verschwinden. Duke legte auf und sah sich um. Dann pfiff er anerkennend. »Mann, seid ihr reich.« Er setzte sich an den Eßzimmertisch und breitete ein rechteckiges Stück Papier aus. Paul sah ihm gebannt zu, wie er das Gras zu einem schmalen Streifen zusammenschob und in das feine weiße Papier rollte.
»Nicht hier drin«, sagte Paul, der plötzlich wieder unruhig wurde. Sie gingen nach draußen und setzten sich auf die Hintertreppe, die Spitze des Joints glühte orange, sie reichten ihn hin und her. Zuerst spürte Paul nichts. Dann nahm er ein leises Kribbeln wahr, das wieder verschwand, und nach einer Weile – er hätte nicht sagen können, wie lange es gedauert hatte – merkte er, daß er in das Bild eines Wassertropfens auf den Steinplatten vertieft war. Er beobachtete, wie dieser sich ganz langsam mit einem zweiten Tropfen vereinte und über den Rand hinaus ins Gras tropfte.
Duke lachte sich kaputt. »Du solltest dich mal sehen«, prustete er. »Du bist dermaßen breit!«
»Laß mich in Ruhe, du Arschloch«, sagte Paul und fing selbst an zu lachen.
Irgendwann gingen sie rein, es hatte längst angefangen zu regnen, sie waren naß bis auf die Haut und froren. Auf dem Herd stand das Essen für ihn bereit, aber Paul rührte es nicht an. Statt dessen öffnete er eine Konservenbüchse und ein Glas Erdnußbutter. Duke bestellte Pizza. Paul holte seine Gitarre, ging ins Wohnzimmer, wo auch das Klavier stand, und fing an zu spielen. Er saß auf der Kante des leicht erhöhten Kamins, zupfte ein paar Saiten, dann intonierten seine Finger die vertrauten Segovia-Stücke, die er am Abend zuvor gespielt hatte: »Estudio« und »Estudio Sin Luz«. Bei den Titeln dachte er an seinen großen und schweigsamen Vater, wie er sich über den Vergrößerungsapparat in der Dunkelkammer beugte. Die Stücke waren wie ein Licht- und Schattenspiel, |279| das eine dem anderen gegenübergestellt, und nun waren die Noten mit seinem eigenen Leben verwoben, mit der Stille des Hauses, mit dem Urlaub am Strand und den übergroßen Fenstern seines Klassenraums. Paul spielte, und er hatte das Gefühl, daß er über dem Boden schwebte, daß
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