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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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darf ich hier gar nicht rein. Wir können hier nicht bleiben.«
    »Hey, das hier hab ich schon mal gesehen«, sagte Duke, der vor dem Foto von den rauchenden Trümmern des |284| ROTC-Gebäudes stehengeblieben war, auf dem die Blütenblätter eines Hornstrauchs sich blaß von den verkohlten Wänden im Hintergrund abhoben. Damit hatte sein Vater vor Jahren den Durchbruch als Fotograf geschafft. Die Nachrichtenagenturen waren darauf aufmerksam geworden, und so war es in allen Zeitungen zu sehen gewesen. »Damit hat alles angefangen«, sagte sein Vater häufig, nicht ohne Stolz. »Damit hatte ich den Fuß in der Tür.«
    »Kann gut sein«, sagte Paul. »Mein Vater hat es gemacht. Bitte laß die Finger davon, ja?«
    Duke lachte. »Ganz ruhig, mein Junge. Alles ist in bester Ordnung.«
    Paul ging in die Dunkelkammer, wo die Luft wärmer und stickiger war. Bilder hingen dort zum Trocknen. Er öffnete den kleinen Kühlschrank, in dem sein Vater die Filme aufbewahrte, und entnahm dem verborgensten Winkel einen kühlen braunen Umschlag. Darin befand sich ein weiterer Umschlag voller Zwanzigdollarscheine. Er zog einen Schein heraus, dann einen zweiten und verstaute das Geld wieder.
    Er war nicht das erste Mal heimlich hier oben. So hatte er auch den Umschlag mit dem Geld entdeckt, als er eines Nachmittags im Refugium seines Vaters Gitarre spielte. Er war sauer gewesen, weil sein Vater in letzter Sekunde sein Versprechen gebrochen hatte, ihm zu zeigen, wie man den Vergrößerungsapparat bedient. Irgendwann hatte er Hunger, und er durchwühlte den Kühlschrank und stieß auf den Umschlag. Das Ganze war für ihn unerklärlich gewesen. Beim erstenmal hatte er sich einen Schein herausgenommen, später mehr – seinem Vater schien es nicht aufzufallen. Ab und zu kam er hier hoch und bediente sich. Paul fühlte sich nicht wohl dabei, das Geld zu stehlen. Wenn er neben seinem Vater im Dunkeln stand und die Bilder vor ihren Augen Gestalt annahmen, sprach sein Vater über die Fotografie. Ein Negativ enthalte nicht nur ein einziges Bild, predigte er, sondern unendlich viele. Es gebe nicht nur einen einzelnen Augenblick, |285| sondern eine unendliche Zahl verschiedener Augenblicke. Es hänge davon ab, wer die Dinge sah und wie er sie sah. Paul fühlte, wie sich ein Abgrund vor ihm auftat, immer wenn sein Vater von solchen Dingen sprach. Wenn das alles stimmte, dann war sein Vater jemand, den er niemals richtig kennen würde, und das machte ihm angst. Dennoch hielt er sich gern hier auf, im sanften Licht, vom Duft der Chemikalien umgeben. Er mochte die Aufeinanderfolge der präzisen Handlungsschritte vom Anfang bis zum Ende, mochte es, wenn das belichtete Papier in das Entwicklerbad getaucht wurde und Bilder aus dem Nichts entsprangen, wenn die Stoppuhr ihr Signal gab und das Papier in die Klemmen geschoben wurde, wie die Bilder geheimnisvoll schimmernd trockneten, unverrückbar.
    Er hielt kurz inne und betrachtete die aufgehängten Fotos. Man sah sonderbare, wirbelnde Formen, versteinerten Blumen ähnlich. Korallen, schoß es ihm durch den Kopf; er hatte welche in Aruba gesehen, dies hier waren allerdings die bloßen Windungen eines offenliegenden Gehirns. Die anderen Fotos waren ähnlich: poröse Höhlungen, die weißlich schillerten wie eine Landschaft aus vielförmigen Kratern, die man auf dem Mond aufgenommen hatte. »Gehirnkorallen/Knochen«, hatte sein Vater in den Anmerkungen notiert, die fein säuberlich auf dem Tisch neben dem Vergrößerungsapparat lagen.
    An jenem Tag im Strandhäuschen, in dem Augenblick, bevor er Pauls Anwesenheit gewahr geworden war und den Kopf gehoben hatte, war der Gesichtsausdruck seines Vaters völlig verklärt gewesen, als hätte ihn die Erinnerung an eine alte Liebe oder einen schmerzlichen Verlust heimgesucht. Paul hatte es bemerkt und sich gewünscht, irgend etwas sagen, irgend etwas tun zu können, damit alles wieder gut würde. Andererseits wünschte er sich, aus alldem auszubrechen, die Probleme zu vergessen und frei zu sein. Als er den Blick kurz abgewandt und dann seinen Vater wieder angeblickt hatte, hatte der denselben distanzierten, beliebigen |286| Gesichtsausdruck angenommen wie immer. Er hätte an alles mögliche denken können – an ein technisches Problem mit seinen Filmen, an Knochenkrankheiten oder ans Mittagessen. Einem einzelnen Augenblick konnten Tausende von Bedeutungen innewohnen.
    »Hey«, sagte Duke und drückte die Tür auf. »Kommst du irgendwann mal da raus?«
    Paul ließ

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