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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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gedacht. Er war einfach an ihnen vorbeigelaufen, versunken in seinen Rhythmus, der ihn über die gesamte Strecke bis zum Küstenvorsprung trug. Dort hielt er an, ging eine Weile im Kreis und lief wieder zurück, diesmal langsamer.
    Die Kleider waren ein Stück fortgeweht worden, ein Ärmel der Bluse flatterte im Küstenwind, und die hellrosafarbenen Flamingos tanzten auf dem dunklen, türkisfarbenen Hintergrund. Er verlangsamte sein Tempo. Es hätte die Bluse jeder beliebigen Frau sein können, aber sie gehörte niemand anderem als seiner Mutter. Im Touristenladen in der Stadt hatten sie sie noch belustigt hochgehalten und dann spaßeshalber gekauft.
    Gut, vielleicht gab es in dieser Gegend Hunderte, Tausende solcher Blusen, dennoch bückte er sich und hob sie auf. Der zerknüllte Bikini seiner Mutter, fleischfarben und unverkennbar, fiel aus dem Ärmel. Paul hielt inne, unfähig, sich zu bewegen. Als hätte man ihn beim Stehlen erwischt, als hätte eine Kamera diesen Moment unwiderruflich festgehalten. Er ließ die Bluse fallen und stand immer noch reglos da. Schließlich lief er zurück zum eigenen Strandhäuschen, als suchte er eine Zuflucht. Vor der Tür blieb er einen |275| Moment stehen, bemüht, sich zusammenzureißen. Sein Vater hatte die Schale mit den Orangen auf den Tresen gestellt. Auf dem großen Holztisch sortierte er seine Fotos. »Das ging aber schnell«, sagte er, und Paul lief auf sein Zimmer, ohne den Kopf zu heben, und schlug die Tür hinter sich zu. Sosehr sein Vater auch klopfte, er öffnete ihm nicht.
    Zwei Stunden später tauchte seine Mutter auf und summte vor sich hin, die Bluse mit den Flamingos steckte ordentlich in ihren Shorts. »Ich geh noch ein wenig schwimmen vor dem Mittagessen«, sagte sie, als wäre nichts vorgefallen. »Wer kommt mit?«
    Er schüttelte den Kopf, und da war es plötzlich, das Geheimnis, ihr Geheimnis und nun auch seins, das sich zwischen ihnen erhob wie ein Nebelschleier.

    *

    Auch sein Vater hatte Geheimnisse – in einem Leben, das sich in der Praxis oder in der Dunkelkammer abspielte. Paul fand das normal, so war es nun mal in einer Familie. Bis er anfing, mit Duke herumzuzuhängen, einem begnadeten Klavierspieler, den er eines Nachmittags im Probenraum getroffen hatte.
    Die Madisons hatten kaum Geld, die Gleise lagen gleich nebenan, das ganze Haus wackelte, und die Fenster zitterten, immer wenn ein Zug vorbeirauschte. Dukes Mutter war noch nie in ihrem Leben geflogen. Paul wußte, daß sie einem leid tun mußte; seine Eltern bemitleideten sie bestimmt auch. Sie hatte fünf Kinder und einen Mann, der im Gartencenter arbeitete und nie das große Geld verdienen würde. Aber Dukes Vater spielte gern Fußball mit seinen Jungs, er kam jeden Abend nach der Schicht um sechs Uhr nach Hause, und auch wenn er nicht mehr sprach als Pauls Vater, war er doch immer da, und wenn nicht, dann wußten sie immer, wo sie ihn finden konnten.
    »Also, was hast du vor?« fragte Duke.
    |276| »Keine Ahnung«, sagte Paul. »Und du?«
    Die Schienen summten noch immer. Paul fragte sich, wo der Zug wieder halten würde. Und er fragte sich, ob ihn irgend jemand gesehen hatte, wie er am Rande der Gleise stand, so nah, daß er einen der Waggons hätte berühren können, während der Fahrtwind seine Haare verriß und in seinen Augen brannte. Was hätte derjenige gedacht? Bilder, die im Fenster des Abteils vorbeizogen wie ein Fotofilm, eines nach dem anderen, hier ein Baum, da ein Felsen, da eine Wolke, nie dasselbe Bild. Und dann plötzlich ein Junge – er selbst –, der lachend seinen Kopf nach hinten wirft. Dann ist er wieder weg. Ein Strauch, Stromleitungen, die unscharfe Linie der Straße.
    »Wir könnten Reifen schießen.«
    »Keinen Bock.«
    Sie gingen weiter auf den Gleisen entlang. Kurz hinter dem Rosemont Garden waren sie von hochgewachsenem Gras umgeben. Duke blieb stehen und kramte in den Taschen seiner Lederjacke. Er hatte grüne Augen mit blauen Sprenkeln. Genau wie die Erde, dachte Paul. Wie die Erde, vom Mond aus betrachtet.
    »Guck mal«, sagte Duke. »Das hat mir letzte Woche mein Cousin Danny gegeben.« Er hielt ein kleines Tütchen in der Hand, gefüllt mit getrocknetem Grünzeug.
    »Was ist das?« fragte Paul. »Ein paar Grashalme?« Doch noch während er sprach, begriff er und errötete; was war er doch für ein zurückgebliebener Trottel.
    Duke lachte, sein Lachen schallte durch die Stille, er raschelte mit dem Tütchen.
    »Ganz richtig, mein Junge.
Gras
. Hast du

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