Die Tochter des Fotografen
Geheimnissen bestand; daß sie aus versteckten Knochen aufgebaut war. Es stimmte, daß er einst nach einer Formel gesucht hatte, als könnten die Übereinstimmungen, die Tulpen und Lungen, Adern und Bäumen, Fleisch und Erde zugrunde lagen, ein Muster enthüllen, das er verstehen konnte. Aber sie hatten nichts enthüllt. In wenigen Minuten würde er nach drinnen gehen und ein Glas Wasser trinken. Er würde nach oben steigen und sehen, daß Norah schon schlief, und dann würde er sie betrachten – dieses Mysterium, diesen Menschen, den er niemals wirklich kennen würde –, wie sie da lag, zusammengerollt um ihre eigenen Geheimnisse.
David steuerte auf den winzigen Kühlschrank zu, in dem er seine Chemikalien und Filme aufbewahrte. Der Briefumschlag steckte ganz hinten, hinter mehreren Flaschen. Er war mit druckfrischen, kühlen Zwanzigdollarnoten vollgestopft. Bevor er den Umschlag weglegte, zählte er erst zehn, dann zwanzig Scheine auf den Tisch.
Für gewöhnlich wickelte er das Geld in ein weißes Blatt Papier, bevor er es verschickte, aber an diesem Abend, an dem Pauls Wut noch im Zimmer weilte und seine Musik die Luft erfüllte, setzte er sich hin und schrieb einen Brief. Er schrieb schnell und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Seine Reue und seine Hoffnungen für Phoebes Leben, all das wurde zu Worten auf dem Papier. Wer war dieses Kind, das er weggegeben hatte, überhaupt? Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie so lange leben würde oder daß sie ein Leben |270| führen könnte, wie Caroline es ihm beschrieb. Er hatte seinen Sohn vor Augen, wie er allein auf der Bühne saß, und dachte an die Einsamkeit, die Paul beherrschte. Empfand Phoebe genauso? Was hätte es für die beiden bedeutet, zusammen aufzuwachsen? So wie Norah und Bree, die zwar in jeder Hinsicht verschieden, aber doch eng miteinander verbunden waren? Wie hätte es sich auf ihn selbst ausgewirkt, wenn June nicht gestorben wäre? »Ich würde Phoebe sehr gerne einmal treffen«, schrieb er. »Ich wünsche mir für sie, daß sie ihren Bruder kennenlernt, so wie ich es mir für ihn wünsche.« Dann wickelte er den Brief um das Geld, ohne ihn noch einmal durchzulesen, steckte alles in einen Briefumschlag und schrieb die Adresse darauf. Er klebte den Brief zu und versah ihn mit einer Briefmarke. Morgen würde er ihn aufgeben.
Durch die Fenster der Galerie strömte das Mondlicht herein. Paul hatte aufgehört zu spielen. David starrte den Mond an, der nun höher stand, sich aber immer noch klar gegen die Dunkelheit abzeichnete. Damals am Strand hatte er eine Entscheidung getroffen; er hatte Norahs Kleider auf dem Sand liegenlassen und ihrem Gelächter, das der Wind in das gleißende Licht trug, den Rücken gekehrt. Nachdem er bei der Hütte angelangt war, hatte er an den Fotos gearbeitet, und als sie ungefähr eine Stunde später hereingekommen war, hatte er nicht ein Wort über Howard verloren. Er hatte nicht daran gerührt, weil seine eigenen Geheimnisse dunkler waren und weil er glaubte, daß ihre Geheimnisse aus seinen hervorgingen.
Jetzt kehrte er in die Dunkelkammer zurück und sah seinen neuesten Film durch. Er hatte während des Abendessens in Aruba heimlich einige Fotos geschossen: Norah, die ein Tablett mit Gläsern trug, Paul am Grill mit leicht erhobenem Becher und verschiedene Schnappschüsse von ihnen allen auf der Veranda. Ihm ging es um das letzte Bild; als er es gefunden hatte, warf er es auf ein Fotopapier. Im Entwicklerbad |271| sah er das Bild langsam, Korn für Korn, auftauchen. Aus dem Nichts erschienen plötzlich Konturen. Dieser Moment hatte für David jedesmal etwas Wunderbares. Das Bild zeigte Norah und Howard auf der Veranda, ihre Gläser zu einem Toast erhoben, lachend. Es hielt einen Moment fest, der noch unschuldig, aber schon mit einer Vorahnung aufgeladen war; einen Augenblick, in dem eine Entscheidung gefallen war. David nahm die Fotografie aus dem Entwickler, ließ sie aber nicht in den Fixierer gleiten. Statt dessen ging er auf die Galerie, stand dann mit dem nassen Foto in der Hand im Mondlicht und blickte auf das Haus, in dem nun kein Licht mehr brannte. Hier lebten Paul und Norah, die beide ihre geheimen Träume träumten und sich in ihrer je eigenen Welt bewegten, deren Leben aber fortwährend von der folgenschweren Entscheidung, die er vor vielen Jahren getroffen hatte, geprägt wurde.
Wieder in der Dunkelkammer, hängte er die Fotografie zum Trocknen auf. Ohne Fixierung würde das Bild keinen Bestand
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