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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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dem eine Frau auf der Bettkante saß und ihrem Haar nachsah, das sich in weichen Flocken, im harten, kalten Licht des Flures, sammelte.
    »Es würde sie umbringen«, hatte er über Norah gesagt. »Ich werde nicht zulassen, daß sie so leiden muß.«
    Sie hörte Schritte näher kommen, und dann stand eine grauhaarige Frau in einer weißen Uniform in der Tür, die fast wie Carolines eigene aussah. Obwohl sie kräftig gebaut war, wirkte sie beweglich, und man sah ihr an, daß mit ihr nicht zu spaßen war. Unter anderen Umständen wäre Caroline von ihr eingenommen gewesen.
    »Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie. »Haben Sie lange gewartet?«
    »Ja«, antwortete Caroline langsam. »Ich warte tatsächlich schon sehr lange.«
    Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf. »Das tut mir leid, der Schnee ist schuld. Wir arbeiten heute mit verringertem Personal. Hier in Kentucky muß nur ein Zentimeter Schnee fallen, und alles liegt still. Ich bin in Iowa aufgewachsen und werde nie verstehen, warum man so ein Theater um ein bißchen Schnee macht, aber da bin ich die einzige. Na ja, was kann ich denn für Sie tun?«
    »Sind Sie Silvia?« fragte Caroline und versuchte sich an den vollen Namen zu erinnern, der unter der Wegbeschreibung auf dem Zettel stand. Sie hatte ihn im Auto vergessen. »Silvia Patterson?«
    Die Frau reagierte verärgert.
    »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich bin Ruth Masters. Silvia arbeitet nicht mehr hier.«
    »Oh!« entfuhr es Caroline, und sie verstummte. Diese Frau wußte nicht, wer sie war. Offensichtlich hatte sie nicht mit Dr. Henry gesprochen. Caroline ließ die Hände sinken, |45| um die schmutzige Windel, die sie noch immer hielt, verschwinden zu lassen.
    Ruth Masters stemmte die Arme in die Hüften und sah sie mißtrauisch an.
    »Sind Sie von dieser Firma, die Säuglingsmilch herstellt?« fragte sie mit einer Kopfbewegung in Richtung der Kiste, die gegenüber auf dem Sofa stand. »Silvia hatte etwas mit diesen Vertretern am Laufen, das wußten wir alle, und wenn Sie von derselben Firma kommen, können Sie gleich wieder einpacken und gehen.« Sie schüttelte unwirsch den Kopf.
    »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, erwiderte Caroline, »aber ich gehe jetzt«, fügte sie beschwichtigend hinzu. »Ich werde sofort verschwinden und Sie nie wieder belästigen.«
    Aber Ruth Masters war noch nicht fertig mit ihr. »Leute wie Sie nennt man heimtückisch. Erst laßt ihr uns Gratis-Proben da, und dann schickt ihr uns eine Woche später die Rechnung. Das hier mag ein Haus für geistesschwache Menschen sein, aber es wird nicht von Dummköpfen geleitet, merken Sie sich das.«
    »Ich weiß«, flüsterte Caroline. »Es tut mir aufrichtig leid.«
    In der Ferne schnarrte eine Klingel, und die Frau nahm die Hände von den Hüften.
    »Sehen Sie zu, daß Sie in fünf Minuten hier raus sind«, drohte sie. »Und kommen Sie nicht wieder.« Dann war sie weg.
    Caroline starrte auf den leeren Türrahmen. Es zog an ihren Beinen. Nach einem Moment legte sie die schmutzige Windel mitten auf den wackeligen Beistelltisch neben dem Sofa. Sie suchte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und hob die Kiste mit Phoebe auf. Schnell, noch bevor sie über das, was sie gerade tat, nachdenken konnte, ging sie durch die spartanische Eingangshalle und schlug die doppelten Türen hinter sich zu. Die Welt draußen empfing sie mit einem kalten Luftzug, der sich neu und unvertraut anfühlte.
    Sie stellte Phoebe wieder ins Auto und fuhr los. Niemand |46| versuchte sie aufzuhalten oder nahm auch nur Notiz von ihrer Abreise. Trotzdem fuhr Caroline schnell, als sie die Interstate erreicht hatte, wobei sie ständig gegen die Erschöpfung, die sie mit der Gewalt einer Welle überkam, ankämpfen mußte. Die ersten fünfzig Kilometer haderte sie mit sich selbst, manchmal sogar laut. »Was hast du getan«, fragte sie sich dann.
    Wenn sie mit Dr. Henry stritt, rief sie sich seine gerunzelte Stirn und den verirrten Muskel, der, immer wenn er aufgebracht war, an seiner Wange zuckte, ins Gedächtnis. »Was denken Sie sich eigentlich dabei?« wollte er dann wissen, und Caroline mußte zugeben, daß sie überhaupt nicht dachte.
    Aber bald erschöpften sich diese Streitgespräche, und als sie die Interstate erreichte, fuhr sie nur noch mechanisch und schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf, um sich wach zu halten. Es war später Nachmittag; Phoebe hatte schon zwölf Stunden geschlafen und würde bald gefüttert werden müssen. Wider alle Vernunft hoffte Caroline, daß

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