Die Tochter des Fotografen
Reihen von Flaschen mit den dazugehörigen Saugern und besah sich die Lätzchen. Als sie sich gerade auf den Weg zu den Kassen machen wollte, fiel ihr ein, daß sie auch noch Milch für sich, ein paar Windeln und irgend etwas zu essen brauchte. Wenn die Menschen, die an ihnen vorbeigingen, Phoebes Gesicht sahen, lächelten sie, und einige hielten sogar an und schoben die Decken beiseite, um sie genauer betrachten |49| zu können. »Oh, wie süß!« riefen sie dann aus und fragten: »Wie alt ist sie?« Caroline log, ohne Gewissensbisse zu haben. »Zwei Wochen«, antwortete sie. »Oh, sie sollten das Baby bei diesem Wetter nicht mit nach draußen nehmen«, wurde sie von einer Frau mit grauen Haaren getadelt. »Du liebe Zeit! Bringen Sie es schnell nach Hause!«
In Gang sechs, Caroline war gerade dabei, mehrere Dosen mit Tomatensuppe herauszusuchen, rührte sich Phoebe plötzlich, ihre Hände zuckten wild, und sie begann zu schreien. Caroline schwankte einen Moment, bevor sie das Baby und die unförmige Tasche aufhob und sich zu den Toiletten im hinteren Teil des Geschäftes begab. Sie setzte sich auf einen orangefarbenen Plastikstuhl, der in einer Ecke stand. Das Tropfen eines undichten Wasserhahns begleitete sie, während sie das Baby auf ihrem Schoß balancierte und Milch von der Thermoskanne in eine Flasche füllte. Es dauerte einige Minuten, bis sich die Kleine beruhigt hatte. Schließlich jedoch begriff Phoebe, wie das Saugen funktionierte, und dann trank sie, wie sie geschlafen hatte: kräftig und intensiv, die Hände unter ihrem Kinn zu Fäusten geballt. Als sie sich zufrieden entspannte, kam die Durchsage, daß das Geschäft jetzt schließen würde. Caroline eilte zu den Kassen, wo ein einziger Kassierer gelangweilt und ungeduldig wartete. Schnell bezahlte sie und klemmte sich die Papptüte unter den einen Arm und Phoebe unter den anderen. Als sie das Geschäft verließ, wurden hinter ihr die Türen geschlossen.
Der Parkplatz war fast leer. Caroline stellte die Tüte mit den Lebensmitteln auf der Motorhaube ab und legte Phoebe in ihre Kiste auf den Rücksitz. Die Stimmen der Angestellten hallten undeutlich über den Platz. In den Lichtkegeln der Straßenlampen wirbelten vereinzelte Schneeflocken, nicht mehr und nicht weniger als zuvor. Man konnte der Wettervorhersage fast nie trauen. Nicht einmal die heftigen Schneefälle in der Nacht, als Phoebe geboren wurde – sie mußte sich daran erinnern, daß es erst letzte Nacht gewesen war, obwohl es Jahre zurückzuliegen |50| schien –, waren angekündigt worden. Sie griff in die Papiertüte, riß die Verpackung eines Toastbrotes auf und nahm eine Scheibe heraus. Da sie den ganzen Tag über nichts gegessen hatte, war sie völlig ausgehungert. Kauend schlug sie die Tür zu und dachte müde an ihre Wohnung, die so ordentlich und schlicht war. Sie sehnte sich nach ihrem Doppelbett mit der weißen Chenille-Überdecke und danach, daß alles war, wo es hingehörte. Sie war schon halb um das Heck ihres Wagens herumgelaufen, als sie bemerkte, daß ihre Rücklichter schwach rot leuchteten.
Abrupt blieb sie stehen und starrte auf die Lampen. Die ganze Zeit über, während sie in den Gängen des Lebensmittelgeschäfts herumgeirrt war und sich in die fremde Toilette zurückgezogen hatte, um Phoebe ruhig füttern zu können, hatten sie gebrannt und ihr Licht an den Schnee verschwendet.
Als sie den Zündschlüssel umdrehte, klickte es nur. Die Batterie war so leer, daß sie dem Wagen nicht einmal ein Brummen entlocken konnte.
Sie stieg aus und stellte sich an die offene Tür. Jetzt war der Parkplatz ganz leer; das letzte Auto war gerade davongefahren. Da begann sie zu lachen. Aber es war kein gewöhnliches Lachen – selbst Caroline merkte das –, ihre Stimme war zu laut, fast ähnelte es einem Schluchzen. »Ich habe ein Baby«, sagte sie laut und staunte über sich selbst. »Ich habe ein Baby in diesem Auto.« Aber der Parkplatz vor ihr lag still da, und die Fenster des Lebensmittelgeschäftes warfen große helle Rechtecke auf den Schneematsch. »Ich habe hier ein Baby«, wiederholte sie verzweifelt, aber ihre Stimme verlor sich schnell in der Dunkelheit. »Ein Baby!« schrie sie in die Stille hinein.
|51| 3. Kapitel
März 1964
N ORAH SCHLUG DIE AUGEN AUF. DER HIMMEL VER BLASSTE in der aufziehenden Morgendämmerung, aber noch hing der Mond in den Bäumen und erhellte das Zimmer mit bleichem Schein. Sie hatte geträumt, daß sie auf gefrorenem Erdboden nach etwas suchte,
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