Die Tochter des Fotografen
das sie verloren hatte. Stechende, spröde Grashalme zerbrachen unter ihrer Berührung und hinterließen winzige Schnittwunden in ihrer Haut. Als sie aufwachte, betrachtete sie einen Augenblick lang verwirrt ihre Hände. Aber sie waren unversehrt, und sie sah nur ihre sorgfältig gefeilten und polierten Fingernägel.
Neben ihr, in seiner Wiege, lag ihr Sohn und schrie. Mit einer geschmeidigen Bewegung, die eher instinktiv als bewußt war, hob ihn Norah ins Bett. Die Laken an ihrer Seite waren kühl und von arktischem Weiß. David war schon gegangen. Während sie schlief, war er in die Klinik gerufen worden. Norah zog ihren Sohn in die warme Rundung ihres Körpers und öffnete ihr Nachthemd. Seine kleinen Hände flatterten wie die Flügel eines Nachtfalters gegen ihre geschwollenen Brüste, und er saugte sich fest. Ein stechender Schmerz, der in einer Welle abklang, als die Milch kam, durchfuhr ihre Brust. Sie streichelte sein weiches Haar und seine zarte Kopfhaut. Die Kräfte seines kleinen Körpers waren erstaunlich. Seine Hände beruhigten sich und verharrten wie kleine Sterne auf ihrer Haut.
Sie schloß die Augen und schwebte träge zwischen Schlaf und Wachen. Tief in ihrem Inneren war eine Quelle angestochen worden. Ihre Milch floß, und auf eine geheimnisvolle Weise wurde Norah selbst zu einem Fluß, der alles |52| Leben umfaßte: die Narzissen auf der Anrichte, das Gras, das lautlos vor ihrem Fenster wuchs, die neuen Blätter, die sich aus den Knospen der Bäume wanden; winzige Larven, weiß wie Samenkörnchen, in der Erde versteckt, die sich in Raupen, in winzige Würmer oder in Bienen verwandelten, und die Rufe und der Flügelschlag der Vögel. Paul ballte seine kleinen Fäuste unter seinem Kinn. Seine Wangen hoben und senkten sich rhythmisch, während er trank. Alles um sie herum war verlockendes, betörendes Leben.
In Norahs Herz wallte ein kompliziertes Gemisch aus Liebe, gewaltigem Glück und Leid. Sie hatte nicht gleich um ihre Tochter getrauert wie David. »Ein blaues Baby«, hatte er gesagt, und Tränen waren in den Stoppeln seines Dreitagebartes hängengeblieben. Ein kleines Mädchen, das nie einen Atemzug getan hatte. Paul hatte auf ihrem Schoß gelegen, und Norah hatte ihn genau betrachtet: sein winziges Gesicht, das so ernst und zerknittert war, das gestrickte, geringelte Häubchen auf seinem Kopf, die kleinen Finger, die rosa, zart und gekrümmt waren. Seine unglaublich winzigen Fingernägel waren noch weich und durchsichtig wie der Mond am Taghimmel. Was David gesagt hatte, konnte Norah noch nicht wirklich begreifen.
Die Bilder der vergangenen Nacht waren mal deutlich, dann wieder verschwommen. Sie erinnerte sich an den Schnee, die lange Fahrt zur Klinik auf leeren Straßen und daran, daß David an jeder Ampel hielt, während sie gegen die wellenartig wiederkehrenden Wehenattacken, die die Intensität eines Erdbebens hatten, ankämpfte. Danach hatte sie nur noch einzelne, seltsame Eindrücke: die fremde Stille der Klinik, ein weicher, oft gewaschener blauer Stoff über ihren Knien, die Kälte des Untersuchungstisches, die gegen ihren nackten Rücken hauchte, das Aufblitzen von Caroline Gills goldener Uhr, als sie Norah betäubte. Dann wachte sie auf, hielt Paul in ihren Armen, und David weinte an ihrer Seite. Sie beobachtete ihn mit Besorgnis und Interesse, nahm aber |53| keinen Anteil. Eine Nachwirkung der Geburt, die ein hormonell bedingtes Hochgefühl ausgelöst hatte. Ein anderes Baby, ein blaues – wie war das möglich? Sie erinnerte sich an eine zweite Welle von Preßwehen und an die Spannung, die in Davids Stimme lauerte. Aber das Neugeborene in ihrem Arm war vollkommen und wunderbar, war mehr als genug. »Ist schon gut«, hatte sie David getröstet, während sie seinen Arm streichelte, »alles ist gut.«
Erst am nächsten Tag, als sie das Büro verließen und zögernd in den feuchten, naßkalten Nachmittag hinaustraten, war der Schmerz zu ihr durchgedrungen. Es war schon fast dunkel, und in der Luft lag der Geruch von schmelzendem Schnee und feuchter Erde. Der Himmel war bewölkt, ein körnig weißer Hintergrund für die kahlen Äste der Platanen.
Während sie Paul trug, der leicht wie ein Kätzchen war, kam es ihr seltsam vor, einen völlig neuen Menschen nach Hause zu bringen. Sie hatte das Zimmer so liebevoll eingerichtet; hatte eine Wiege und die Anrichte aus Ahorn ausgesucht, die Zierleiste mit den Bären angebracht, Vorhänge und sogar einen Quilt genäht.
Alles war
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