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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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sie in Lexington sein würden, bevor es soweit war.
    Sie hatte gerade die letzte Ausfahrt von Frankfort passiert, 52 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, als die Bremslichter des Wagens vor ihr aufleuchteten. Erst verringerte sie nur leicht ihr Tempo, bremste dann etwas schärfer, bevor sie hart auf die Bremse treten mußte. Die Dämmerung setzte langsam ein, und die Sonne war nur noch ein trüber roter Punkt am bedeckten Himmel. An einem kleinen Hügel kam der Verkehr komplett zum Erliegen, war nur noch ein Band von Rücklichtern, das in einer Traube endete, die rot und weiß aufblitzte: ein Auffahrunfall. Caroline war zum Heulen zumute. Der Tank war noch knapp zu einem Viertel gefüllt, genug, um Lexington zu erreichen, aber ohne Reserve für einen Stau wie diesen – sie konnten hier ewig stehen. Mit einem Säugling im Auto konnte sie es nicht einmal riskieren, den Motor abzustellen, weil dann die Heizung ausfallen würde.
    |47| Einige Minuten lang saß sie wie gelähmt da. Eine schimmernde Kette von Autos trennte sie von der letzten Ausfahrt, die 400 Meter zurück lag. Von der blaßblauen Motorhaube des Fairlane stieg Hitze auf, die in der Dämmerung schwach flimmerte und die wenigen Schneeflocken, die in der Luft schwebten, auflöste. Phoebe seufzte, verzog leicht das Gesicht und entspannte sich wieder. Caroline riß, einem Impuls folgend, über den sie sich später wundern würde, das Lenkrad mit einem Ruck herum und lenkte den Fairlaine auf den Seitenstreifen. Sie legte den Rückwärtsgang ein und setzte zurück, um langsam an der Reihe der stehenden Autos vorbeizufahren. Es war ein komisches Gefühl, als ob sie einen Zug passieren würde. Eine Frau in einem Pelzmantel, drei Kinder, die Grimassen schnitten, und ein rauchender Mann, der ein Jackett trug, glitten an ihr vorbei. Sie reiste, entlang des stehenden Verkehrs, der wie ein gefrorener Fluß dalag, rückwärts in die Dunkelheit, und die Umrisse verschwammen.
    Ohne Zwischenfälle erreichte sie die Ausfahrt, die zu einer Straße führte, über der sich die Bäume wieder unter der Schneelast bogen. Die Felder wurden von einzelnen Häusern unterbrochen, die immer zahlreicher wurden und deren Fenster bereits erleuchtet waren. Bald fuhr Caroline die Hauptstraße von Versailles entlang, die von malerischen Backsteinfassaden, in denen sich kleine Läden befanden, gesäumt wurde, und suchte nach Schildern, die ihr den Weg nach Hause zeigen würden.
    Einen Block weiter tauchte ein glänzend blaues Kroger-Schild auf. Die hellen Schaufenster warben mit Angeboten und boten einen vertrauten Anblick, der sie tröstete und ihr plötzlich bewußt machte, wie hungrig sie war. Welcher Tag war heute noch? Samstag? Die Geschäfte würden morgen geschlossen sein, und sie hatte fast keine Lebensmittel zu Hause. Trotz ihrer Erschöpfung fuhr sie auf den Parkplatz und machte den Motor aus.
    |48| Phoebe, warm und leicht und nur zwölf Stunden alt, war noch immer in tiefen Schlaf gehüllt. Caroline steckte das winzige, eng zusammengerollte Bündel unter ihren Mantel. Über den Asphalt blies der Wind, scheuchte Schneereste und einige wenige neue Flocken auf und wirbelte sie in die Ecken. Als sie einen Weg durch den Schneematsch suchte, hatte sie Angst, hinzufallen und das Baby zu verletzen. Gleichzeitig ging ihr flüchtig durch den Kopf, wie einfach es wäre, das Baby in einem Müllcontainer, auf den Stufen einer Kirche oder sonst irgendwo zurückzulassen. Dies winzige Leben lag völlig in ihrer Hand, und sie fühlte sich verantwortlich dafür, so sehr, daß es sie benommen machte.
    Die Glastüren schwangen auf und setzten einen Schwall von Licht und Wärme frei. Das Geschäft war überfüllt. Menschen mit hochbeladenen Einkaufswagen strömten heraus. An der Tür stand ein Junge, der die Waren in die Tüten packte.
    »Wir haben nur wegen des Wetters länger geöffnet«, warnte er, als sie eintrat. »Wir schließen in einer halben Stunde.«
    »Aber der Schneesturm ist vorbei«, erwiderte Caroline, worauf der Junge in ungläubiges Gelächter ausbrach. Sein Gesicht war rot vom heißen Gebläse, das von der Decke über den automatischen Türen in den Abend hinausströmte. »Ha ben Sie noch nicht gehört, daß es uns heute nacht wahrscheinlich wieder erwischen wird? Der nächste große Sturm steht kurz vor der Tür!«
    Caroline legte Phoebe in einen der Einkaufswagen und ging durch die Gänge. Sie dachte über die verschiedenen Sorten von Säuglingsmilch nach, blickte grübelnd auf die

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