Die Tochter des Fotografen
bleibt ein Geheimnis, wo doch niemand von uns oder David je einen Ton richtig getroffen hat.«
Ja, Pauls Talent. Sie beobachtete ihn, wie er durch den Park schritt. Dies war ein Rätsel – und ein Geschenk. Paul hob den Arm und winkte, er grinste über das ganze Gesicht, und Norah ging auf ihn zu und ließ ihr Buch auf der Bank liegen. Ihr Herz schlug schneller, vor Aufregung und Freude und Kummer und Beklommenheit; sie zitterte. Wie es die Welt veränderte, daß er hier war! Endlich trafen sie sich, und sie schloß ihn fest in die Arme. Er trug ein weißes Shirt, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, dazu khakifarbene Shorts. Er roch frisch, als hätte er gerade geduscht. Sie spürte seine Muskeln durch den Stoff hindurch, seine festen Knochen, die Wärme seines Körpers, und für einen winzigen Augenblick konnte sie Davids Wunsch, Momente des Lebens festzuhalten, nachvollziehen. Man konnte es ihm nicht übelnehmen, ihm nicht ankreiden, daß er das Bestreben hatte, in jeden fließenden Moment tiefer einzudringen, sein Rätsel zu hinterfragen, gegen Verlust, Veränderung und Vergänglichkeit anzuschreien.
»Hallo Mom«, sagte Paul und trat zurück, um sie zu betrachten. Seine Zähne waren weiß, gerade, perfekt. Er hatte sich einen dunklen Bart wachsen lassen.
»Wer hätte gedacht, daß wir uns hier treffen?«
»Ja, wer hätte das gedacht.«
Bree war zu ihnen gekommen. Sie ging auf Paul zu und umarmte ihn innig.
»Ich muß gehen«, sagte sie. »Ich wollte dich nur kurz begrüßen. Gut siehst du aus, Paul. Das Vagabundenleben scheint dir gut zu bekommen.«
|431| Er lächelte. »Kannst du nicht bleiben?«
Bree sah kurz zu Norah herüber. »Nein«, sagte sie. »Aber wir sehen uns bald, okay?«
»Okay«, sagte Paul und beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen. »Ich denke schon.«
Norah fuhr sich mit der Rückseite der Handgelenke über die Augen, als Bree sich abwandte und ging.
»Was hast du?« fragte Paul, erst sanft, dann plötzlich besorgt: »Was ist los?«
»Komm, setzen wir uns hin«, antwortete sie und nahm ihn beim Arm. Gemeinsam gingen sie zur Bank zurück und schreckten dabei eine Gruppe Tauben auf. Sie hob ihr Buch auf und strich mit dem Finger über das Lesezeichen.
»Paul, es gibt eine schlimme Nachricht. Dein Vater ist letzte Woche gestorben. An einem Herzanfall.«
Weit riß Paul seine Augen auf, dann wandte er den Blick ab und schaute stumm auf den Weg, den er entlanggekommen war.
»Wann war die Beerdigung?« fragte er schließlich und schüttelte den Kopf.
»Letzte Woche. Es tut mir so leid, Paul. Es gab keine Möglichkeit, dich zu erreichen. Ich habe überlegt, ob ich mich an die Botschaft wenden soll, damit sie mir helfen, dich ausfindig zu machen, doch ich wußte überhaupt nicht, wo ich anfangen sollte. Ich habe deinen Reiseplan ja nicht. Deswegen bin ich heute hierhergekommen. In der Hoffnung, daß du auftauchen würdest.«
»Ich hätte fast den Zug verpaßt«, sagte er nachdenklich. »Fast hätte ich es nicht geschafft.«
»Aber nun bist du ja hier.«
Er nickte, lehnte sich nach vorn, indem er die Ellenbogen auf die Knie stützte, und faltete die Hände. Sie entsann sich, daß er genauso im leeren Auditorium gesessen, verzweifelt seine Enttäuschung zu verbergen versucht hatte, nachdem er beim ersten Vorspielen durchgefallen war. Er ballte die |432| Fäuste und ließ wieder locker. Sie umschloß Pauls Hände mit ihren und spürte seine harten Fingerspitzen. Sie saßen lange Zeit da und hörten den Wind in den Blättern rauschen.
»Es ist ganz normal, daß es dich so trifft«, sagte sie schließlich ruhig. »Er war dein Vater.«
Paul nickte, doch sein Gesicht war weiterhin verschlossen. Als er schließlich sprach, kippte seine Stimme fast. »Ich habe nie daran gedacht, daß er sterben könnte. Daran, daß es mir etwas ausmachen könnte. Wir haben uns nie wirklich ausgesprochen.«
»Ich weiß.« Und es stimmte. Nach Brees Anruf war Norah die von Blättern bedeckte Straße hinuntergelaufen und hatte ihren Tränen freien Lauf gelassen, war von David enttäuscht gewesen, weil er gegangen war, ohne ihr die Chance zu lassen, alles ein für allemal in Ordnung zu bringen. »Doch früher hat es wenigstens die Möglichkeit gegeben zu reden.«
»Das stimmt. Ich habe immer darauf gewartet, daß er den ersten Schritt macht.«
»Ich glaube, darauf hat auch er gewartet.«
»Er war mein Vater. Er hätte doch wissen müssen, was zu tun war.«
»Er hat dich geliebt«, sagte sie.
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